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# taz.de -- Studie über Judenhass der Deutschen: Mehr als nur Neid
> Götz Aly glaubt mit der Studie "Warum die Deutschen? Warum die Juden" den
> Schlüssel für den aufkeimenden Hass gegen Juden und den Holocaust
> gefunden zu haben.
Bild: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin:Mit den Juden verbanden die Deutschen lau…
"Man kann den Antisemitismus nicht aus dem Antisemitismus heraus erklären",
so fasst Götz Aly in einem Interview das Motiv für sein neues Buch
zusammen. Vielmehr müsse man erklären, warum der mörderische Antisemitismus
"in Deutschland mit dieser Wucht und in dieser sozialen Breite entstehen"
konnte.
Dazu geht er einen weiten Weg - von den Auswirkungen der napoleonischen
Kriege bis zur Eskalation des radikalen Antisemitismus nach dem Ersten
Weltkrieg, nach Inflation, Versailles und Weltwirtschaftskrise. Das ist
schon vielmals erzählt worden, Alys Kernthese ist in dieser Zuspitzung und
Schärfe aber doch aufschlussreich.
Sie geht etwa so: Deutschland war, nach Plessner, eine verspätete Nation.
Nationale Einigung "von oben", Industrialisierung, defizitäre Volksbildung:
Die Deutschen waren vor und nach der Reichseinigung von 1871 ein Volk mit
schwachem Selbstbewusstsein und angesichts der heranbrechenden Moderne eher
verzagt, ängstlich und abwehrend. Die Juden hingegen nahmen Chancen, die
sich ihnen mit Emanzipation und Gewerbefreiheit boten, intensiv und
außerordentlich erfolgreich wahr.
Für sie bot die neue Freiheit endlich die Möglichkeit, der Enge des Ghettos
zu entkommen und ihre Tüchtigkeit zu erproben. 1901 erreichten 7,3 Prozent
der christlichen Kinder in Preußen einen höheren Schulabschluss als die
Volksschule - aber 56,3 Prozent der jüdischen Kinder. In der Industrie, im
Bankwesen, in akademischen Berufen waren Juden um 1900 stark vertreten. Ihr
Durchschnittseinkommen war zu dieser Zeit etwa fünfmal so hoch wie das der
christlichen Deutschen.
Die Juden, so der Hofprediger Stoecker 1880, nähmen in Deutschland eine
Stellung ein, die ihnen nicht zustünde: "Ausgerüstet mit einer starken
Kapitalkraft, auch mit vielem Talent, drückt dieser Bevölkerungsteil auf
unser öffentliches Leben." So entwickelten sich Neid und Missgunst, sowohl
bei den Deutschen, die mit der neuen Zeit nicht mitkamen, als auch bei
jenen, deren sozialer Aufstieg durch erfolgreichere Juden tatsächlich oder
vermeintlich gehemmt wurde.
## Nachkriegsradikalisierung
Nach dem Ersten Weltkrieg radikalisierte sich dieses Syndrom aus
Modernefurcht und Judenhass: Juden, so verbreiteten die Antisemiten, hätten
sich vor dem Einsatz an der Front gedrückt, aus der deutschen Niederlage
Profit gezogen und steckten mit den alliierten Siegern unter einer Decke.
"Auf diesem gesellschaftlichen Boden", so Aly, "gedieh das untergründig
bald weit verwurzelte, moderne Ressentiment gegen die Juden."
Man mag einwenden, dass sich ähnliche Thesen in den meisten neueren
Gesamtdarstellungen zur Deutschen Geschichte fänden. Aber es ist Alys
Verdienst, diese Zusammenhänge luzide und breit belegt erläutert und
plausibel gemacht zu haben. Allerdings bleiben Einwände und Fragen. Zum
einen: War es wirklich nur Neid? Juden standen im späten Kaiserreich ja
nicht nur für materiellen Erfolg. Sie fanden sich zum großen Ärger ihrer
Gegner in der verwirrenden Dynamik der Hochindustrialisierungsphase
offenkundig besser zurecht als die meisten christlichen Deutschen.
Juden galten ihnen daher gleichermaßen als Symbole wie als Profiteure der
Moderne: freche Journalisten, neugierige, aufmüpfige Gymnasiastinnen, kühl
rechnende Börsianer, ironische Schriftsteller - sie repräsentierten in den
Augen ihrer Gegner den Geist der Stadt, des Kapitalismus, des Liberalismus
und Individualismus. Mit den Juden verbanden sich so alle
Herausforderungen, Irritationen und Bedrängungen des modernen Lebens. Nicht
nur Einkommensunterschiede oder unerreichter wirtschaftlicher Aufstieg,
auch die Beschwerden über die Exzesse des Großstadtlebens wurden mit den
Juden in Verbindung gebracht: Prostitution und Alkoholismus,
Frauenemanzipation und Kriminalität, aber vor allem die Massenkultur. Wie
schon in seinem vorherigen Buch "Hitlers Volksstaat" überzeichnet Aly hier
die materiellen Beweggründe und schätzt, wie sein Antipode Wehler, die
kulturellen Elemente viel zu gering ein.
Ein zweites Problem: Lässt sich der Aufschwung des Antisemitismus in
Deutschland tatsächlich durch Kategorien wie "Volkskollektivismus" und
"Gleichheitspostulat" erklären? Aly zieht hier direkte Verbindungen
zwischen der Sozialdemokratie und der Ausbreitung des Antisemitismus und
dreht die in der SPD verbreitete Überzeugung, der Antisemitismus sei "der
Sozialismus der dummen Kerls" gerade um: Die sozialdemokratische Forderung
nach Verminderung der sozialen Ungleichheit habe der Forderung nach
Verminderung des wirtschaftlichen Erfolgs der Juden in die Hände gespielt.
Aber die massive Forderung der Arbeiterschaft nach Beseitigung der sozialen
Ungleichheit finden wir in allen großen Industrieländern der Zeit - und nur
in Deutschland ist der Antisemitismus zur Staatsphilosophie geworden. Und
zum anderen war die Kritik der SPD an den Klassenschranken des Kaiserreichs
völlig berechtigt. Wurden sie dadurch delegitimiert, dass die Antisemiten
sie für ihre Hetze nutzten?
Auf der anderen Seite trifft Aly hier einen richtigen Punkt, wenn er die
antiliberalen Utopien der Rechts- und Linksradikalen der europäischen
Zwischenkriegszeit gerade in Bezug auf den Traum von dem durch Revolution
herzustellenden Zustand sozialer Homogenität - der kommunistischen
klassenlosen Gesellschaft wie der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft
-näher aneinanderrückt.
## Universalistische Ausrichtung
Ein dritter Einwand: Mit den analytischen Kategorien Alys bekommt man
zentrale Phänomene des radikalen Antisemitismus nicht in den Blick. Das
gilt vor allem für die sich nach 1918 rapide verbreitende Vorstellung vom
jüdischen Bolschewismus, die bei der Auslösung des Massenmords an den Juden
in der Sowjetunion eine zentrale Rolle spielte. Sie ist mit Begriffen wie
Neid oder Gleichheitsverlangen nicht greifbar. In ihr steckt vielmehr die
Vorstellung, dass die Juden als Volk ohne Staat per definitionem
internationalistisch und universalistisch ausgerichtet seien und
versuchten, national orientierte Staaten, vor allem Deutschland, mithilfe
des Kommunismus (ebenso wie mithilfe des internationalen Kapitalismus) in
ihre Gewalt zu bringen. Waren nicht auch führende Vertreter der linken
Parteien und der revolutionären Gruppen Juden - von Leo Trotzki über Rosa
Luxemburg bis zu den Anführern der Münchner Räterevolution? Hier schöpfte
der Antisemitismus Plausibilität und entwickelte schon früh gewalttätige
Dynamik.
Schließlich: die Armut. Etwa ein Drittel der Juden in Deutschland waren
keine Profiteure der Industriegesellschaft. Noch viel mehr galt das für die
Juden Osteuropas. Wehrmacht und SS-Einsatzgruppen fanden in Polen, der
Ukraine, Russland und dem Balkan die Juden fast ausschließlich als
ungelernte, arme, schmutzige Elendsgestalten vor. Und es waren Götz Aly und
Susanne Heim, die vor Jahren als Erste und eindrucksvoll zeigten, dass
deutsche Bevölkerungswissenschaftler und Historiker schon vor dem Krieg
umfängliche Pläne entworfen hatten, um durch die Beseitigung des jüdischen
Subproletariats die Armut in diesen Ländern auszurotten und ihre soziale
Struktur zu modernisieren. Nicht Neid auf Juden, sondern im Gegenteil,
Abscheu vor ihrer Armut war hier das Motiv der Vernichtungsbereitschaft.
So ist der Gesamteindruck von diesem Buch etwas zwiespältig. Aly hat
zweifellos Recht, wenn er betont, dass die Vorstellung, die Juden hätten
den Deutschen widerrechtlich etwas weggenommen, und müssten nun dafür zur
Rechenschaft gezogen werden, ein wichtiger Antrieb für den Furor der
Judenverfolgung war. Man musste eben kein erklärter Antisemit sein, um nach
1933 die Entrechtung und Enteignung der Juden hinzunehmen oder zu
akzeptieren. Es reichte, dass man glaubte, die Juden hätten sich irgendwie
bereichert und es mit ihrem Aufstieg wohl zu toll getrieben.
Aber Alys Argumentation deckt nur einen der für Aufstieg und Bedeutung des
Antisemitismus in Deutschland ausschlaggebenden Faktoren ab, nämlich Neid
und Gleichheitsverlangen. Und es erweist sich nicht als hilfreich, dass in
diesem Buch der Eindruck erweckt wird, dies sei nun endlich die umfassende
Antwort auf die Fragen "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" Zentrale
Bereiche bleiben außen vor, denn seit dem letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts wurde der Antisemitismus in Deutschland zum Passepartout, zur
Erklärung nahezu aller Widersprüche des modernen Lebens.
Großstadt, wirtschaftliche Defizite, Karriereprobleme, Kriegsniederlage,
Massenkultur, Inflation, Schwarzmarkt, Armut, Kommunismus, Wohnungsnot,
Kapitalismus oder Seuchengefahr - hinter allem steckten die Juden. Alys
materialistischer Ansatz - die direkte Verbindung zwischen materiellen
Interessen und politischer Forderung - greift hier deutlich zu zu kurz,
"Ideologie" ist eben nicht etwas "Ausgedachtes", wie Aly an einer Stelle
formuliert, sondern ein Überzeugungsgebäude mit Welterklärungsanspruch und
eigener Wirkungsmacht.
1 Sep 2011
## AUTOREN
Ulrich Herbert
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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