| # taz.de -- NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock: "Sie müssen Freiheiten lassen" | |
| > Thomas Hengelbrock, neuer Leiter des NDR-Sinfonieorchesters, darüber, wie | |
| > er mit den Musikern kommuniziert, warum der Dirigent manchmal nur stört - | |
| > und wie sich das Pult vom Segelboot unterscheidet. | |
| Bild: "Wir können in der Musik Dinge erfahren, die in unserem begrenzten, mein… | |
| taz: Herr Hengelbrock, wie machen Sie sich ein neues Orchester gewogen? | |
| Thomas Hengelbrock: Ich habe da kein System. Ich komme dorthin und bin | |
| neugierig auf das, was mir angeboten wird. Natürlich bringe ich eine | |
| präzise Vorstellung mit in die Proben, aber wenn es dann losgeht, muss man | |
| sehen, wie ist die Chemie? Was liegt in der Luft zwischen uns? Geht das | |
| oder nicht? Man spürt das auf einer fast energetischen Ebene, und das war | |
| ein Hauptreiz meines bisherigen Gastdirigenten-Daseins inner- und außerhalb | |
| Europas: möglichst schnell herauszufinden, wie die Kommunikation | |
| funktionieren könnte. | |
| Sind Sie je gescheitert? | |
| Natürlich. Ich bin zwar noch nie abgereist. Aber es gab durchaus | |
| Situationen, in denen das, was das Orchester mir an Klang entgegenbrachte, | |
| so wenig meiner Vorstellung von Homogenität entsprach, dass ich mich - auch | |
| angesichts kurzer Probenzeiten - ernsthaft gesorgt habe. | |
| Sie haben mal gesagt, man müsste mit einer festen Vorstellung in die Proben | |
| gehen. | |
| Das ist von Stück zu Stück verschieden. Bei Schumanns 4. Sinfonie, die ich | |
| jetzt mit dem NDR-Sinfonieorchester eingespielt habe, höre ich gleich, dass | |
| die Musiker sie schon öfter gespielt haben. Da nehme ich den vollen, | |
| schönen Klang des Orchesters auf, feile aber an Tempo- und | |
| Artikulationsfragen und arbeite so mein persönliches Relief hinein. Bei der | |
| ersten Mendelssohn-Sinfonie, die das Orchester nie gespielt hat, ist das | |
| anders. Da merke ich beim ersten Durchspielen, das es noch keine Tradition | |
| gibt. Das klingt dann durchaus verschieden. | |
| Sie haben die "historisch informierte" Aufführungspraxis auf deutsche | |
| Bühnen gebracht. Woraus speist sich Ihr Klangideal? | |
| Das hängt vom jeweiligen Stück ab, und ich würde auch nie sagen, so ist es | |
| richtig und so nicht. Aber wenn wir etwa für unser Eröffnungskonzert | |
| Händels Suite aus der Oper "Almira, Königin von Castilien" spielen, sage | |
| ich den Musikern: Das ist französischer Stil, also wollen wir es so | |
| spielen, als ob französische Instrumentalisten mit ihren kurzen | |
| französischen Tanzbögen diesen punktierten französischen | |
| Ouvertüren-Rhythmus spielten. Anderswo bei Händel gibt es sehr kantable | |
| italienische Passagen. Die sollten wir in italienischer Manier spielen. | |
| Will sagen: Schon bei einem einzigen Stück müssen wir die klangliche | |
| Palette des Orchesters weit auffächern. | |
| Würden Sie sich als Perfektionisten bezeichnen? | |
| Ich arbeite gern intensiv, bis ich das Gefühl habe, jetzt ist ein Punkt | |
| erreicht, von dem aus wir sehr frei musizieren können. Es sind zum Teil | |
| sehr harte und langwierige Probenprozesse, bis Sie sagen können, jetzt | |
| lassen wir die Musik schwingen, jetzt galoppiert das Pferd. Aber wenn es | |
| soweit ist, bin ich relativ großzügig, was etwa falsche Noten angeht. Wenn | |
| die grundsätzliche Musizierhaltung gut ist, bin ich nicht so | |
| perfektionistisch. | |
| Ist Musik eigentlich Selbstzweck? | |
| Musik ist in Töne gegossenes Leben, um es mal philosophisch zu formulieren. | |
| Sie umschließt sowohl das gelebte als auch das ungelebte Leben. Wir können | |
| in der Musik Dinge erfahren, die in unserem begrenzten, meinetwegen auch | |
| kleinbürgerlichen Leben nicht möglich sind. Im Leben dürfen wir nicht so | |
| radikal sein, sonst würden wir uns jeden Tag entzweien. Aber in Strawinskys | |
| "Frühlingsopfer" kann man so extrem, so radikal und grausam sein, wie man | |
| will. Darin liegt eine große Faszination. | |
| Sie haben mal gesagt, wir seien auf der Welt, um etwas zu bauen. Tun Sie es | |
| um der Sache willen - oder damit es Ihren Namen trägt? | |
| So eitel bin ich dann doch nicht - auch wenn ich Dirigent bin. | |
| Stimmt es eigentlich, dass Sie auch segeln? | |
| Ich bin als Jugendlicher öfter gesegelt, ohne den Segelschein zu haben. | |
| Aufs Segeln freue ich mich hier in Hamburg wirklich. | |
| Haben Segler und Dirigent etwas gemeinsam? | |
| Ich glaube nicht. Der Segler liebt ein bisschen die Gefahr, die Freiheit | |
| und die Tatsache, dass er nicht immer festen Boden unter den Füßen hat. Und | |
| die extrem enge Verbindung zur Natur. | |
| Aber er hat keine Kontrolle. | |
| Er hat partielle Kontrolle. Aber er muss sein eigenes Geschick in die | |
| größere Kraft der Natur einpassen. Das ist sehr lehrreich. | |
| Wohingegen der Dirigent die totale Kontrolle behält. | |
| Das ist Unsinn. Ich glaube, die totale Kontrolle ist das Schlimmste, was | |
| passieren kann. Mit einer totalen Kontrolle machen Sie das, was Sie | |
| kontrollieren wollen, unendlich klein. Nein, das funktioniert anders: Sie | |
| können einen bestimmten Ausgangspunkt des gemeinsamen Musizierens | |
| definieren und vielleicht auch das Reiseziel. Aber auf der Reise selbst | |
| müssen Sie Freiheiten lassen. Da muss der Solist sein Solo spielen können, | |
| ohne von mir in jedem Takt gezwungen zu sein. Und es gibt immer wieder | |
| große Passagen, in denen ich gar nicht dirigiere und das Orchester laufen | |
| lasse - wenn ich merke, wir segeln jetzt unterm Wind, und ich würde nur | |
| stören. | |
| Was bedeutet Ihnen Macht? | |
| Macht, um Macht zu haben, ist völlig unsinnig. Es ist schön, dass ich als | |
| Chef des NDR-Sinfonieorchesters jetzt Einfluss habe. Dass ich die Programme | |
| gestalten, über Probenzeiten bestimmen und mir die Solisten aussuchen kann. | |
| All das bedeutet signifikante Veränderung - und eine große Verbesserung | |
| gegenüber meinem bisherigen Dasein als Gastdirigent. | |
| ## Saisonauftakt u. a. mit Carl Philipp Emanuel Bachs "Hamburger Sinfonie", | |
| Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 3 "Eroica" und George Gershwins "Cuban | |
| Ouverture": Fr, 9. 9., 18.30 Uhr, Hamburg, Laeiszhalle. NDR Kultur | |
| überträgt das Konzert live im Radio | |
| 7 Sep 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
| Petra Schellen | |
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| NDR | |
| Klassik | |
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