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# taz.de -- taz-Wahllokal: Bürgerbeteiligung: Ein Wutschrei mit Nachhall
> Vor einem Jahr hat Berlin sein eigenes Stuttgart 21 bekommen: Gegen die
> Flugrouten für den neuen Großflughafen organisierte sich ein breites
> Bündnis. Was ist daraus geworden?
Bild: Menschenkette gegen Fluglärm am Müggelsee
Es ist sehr schnell gegangen damals. Am 6. September vergangenen Jahres
stellte die Deutsche Flugsicherung ihre Routenvorschläge für Maschinen vor,
die künftig den neuen Großflughafen in Schönefeld an- und von ihm
abfliegen. Marela Bone-Winkel erfuhr am selben Tag aus dem Radio davon, sah
später die Karten in der Zeitung - genauso wie die meisten BürgerInnen.
Spontan dachte die Unternehmensberaterin aus Nikolassee, dass "man da etwas
machen müsse". Zwei Tage später gründete sie die erste Bürgerinitiative
gegen Fluglärm. Einen Monat später waren es an die 30 Aktionsgruppen, und
Bone-Winkel wurde von einer Tageszeitung zur "Mutter des
Flugrouten-Protests" gekürt. Das Thema sollte monatelang die Medien
beherrschen: Berlin hatte sein Stuttgart 21. Doch während der umstrittene
Bahnhof im Süden wohl doch gebaut wird, erreichten die protestierenden
Südberliner und Potsdamer eine weitreichende Änderung der Routen: Der
Aufschrei der "Wutbürger" war äußerst effizient.
"Die Gesellschaft ist protestfähiger geworden jenseits der etablierten
Strukturen von Parteien und Verbänden", stellt Sebastian Braun von der
Humboldt-Universität fest. Der Professor beschäftigt sich seit Jahren mit
der Bürgergesellschaft. Von früheren Bewegungen unterscheiden sich die
neuen Protestierer nach Ansicht Brauns vor allem durch ihr Wissen: "Bildung
ist einer der wichtigsten Indikatoren, der bürgerschaftliches Engagement
beeinflusst." Dazu kämen die Möglichkeiten von Internet, Twitter und
anderer Onlineplattformen - die Organisation sei viel leichter als noch vor
zehn Jahren. Die Politikwissenschaftlerin Margit Mayer verweist darauf,
dass sich mit Bürgerbewegungen wie Stuttgart 21 die aufmuckenden Gruppen
grundsätzlich geändert hätten - auch in Berlin. "Sie kommen nicht mehr nur
aus den linken Nischen, sondern auch aus Milieus, die ihr politisches
Engagement vorher eher auf die Wahlen beschränkten", sagt die Professorin
am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität.
Damit gehe es auch um eine ganz andere Wählerklientel, nämlich die aus dem
konservativen Spektrum und der Mitte.
Tatsächlich stellten Studierende der Universität Göttingen fest, dass mehr
als 80 Prozent der Flugrouten-Protestler mindestens die Fachhochschule
abgeschlossen haben. Fast zwei Drittel haben demnach ein monatliches
Nettohaushaltseinkommen von 2.600 Euro. Die Studierenden befragten im
Frühsommer mehr als 1.000 Flugroutengegner. Marela Bone-Winkel sagt, sie
habe die Vorstellung empört, über dem Haus ihrer Familie mit den vier
Kindern künftig permanent Flugzeuge ertragen zu müssen. Dazu kam das
Unbehagen, dass die regionalen Politiker wohl schon viel früher von dem
wussten, was hernach als Überraschung präsentiert wurde. "Dass das so eine
Dynamik kriegt und so zeitintensiv wird, hätte ich selbst nicht gedacht."
Bone-Winkel hatte nach wenigen Tagen die richtigen Anwälte und
Fluglärmexperten hinter sich und einen direkten Draht zu den Politikern auf
Bezirks- und Landesebene aufgebaut - eine Organisation, die protestierenden
Flughafenanrainern in Brandenburg jahrelang nicht gelungen war. Ein
Beispiel: Am Samstag vor den wichtigen Fluglärmkommissionssitzungen sperrte
der Zehlendorfer Bürgermeister Norbert Kopp (CDU) sein Rathaus auf und
stimmte das Vorgehen in der Kommission mit Bürgervertretern und Kollegen
aus Nachbarbezirken ab.
Die Wissenschaftlerin Mayer sieht dieses Engagement zwar nüchtern: "Man
möchte als Politiker wiedergewählt werden." In Baden-Württemberg habe sich
gezeigt, dass bürgerlicher Protest eine ganze, traditionell verankerte
Landesregierung zu Fall bringen könne. Doch schafften Gesten wie die von
Bürgermeister Kopp Vertrauen in einem von Misstrauen geprägten System: In
einer Befragung der Universität Göttingen äußerten 60 Prozent der
Flugroutengegner Unzufriedenheit mit der Demokratie, wie sie derzeit in
Deutschland funktioniert - dabei glauben genauso viele grundsätzlich an ein
demokratisches System. In die etablierten Parteien und Politiker auf
Bundes- und Landesebene haben der Erhebung zufolge gar an die 90 Prozent
kaum mehr Vertrauen. "Viele fühlen sich mehr als Stimmvieh der Parteien und
Politiker denn als ernst genommene und einbezogene Bürger", heißt es in der
Studie.
Für Bone-Winkel war die Erfahrung neu, Lokalpolitiker als "zuverlässige
Partner" kennenzulernen. Sie habe darüber hinaus erlebt, dass Demokratie
auch fordere. Nur das Kreuzchen auf dem Zettel machen alle paar Jahre, das
reiche nicht, sagt die eloquente Frau, die inzwischen so manche Talkshow
aufmischt. Bone-Winkel sieht zudem in der Glaubwürdigkeit auch auf
Bürgerseite einen Schlüssel zum Protesterfolg. Anders als manches frühere
Bündnis stellte die Initiative "Keine Flugrouten über Berlin" nie den
Standort des Flughafens in Schönefeld infrage. Es ging stets darum, bei der
Auswahl der Flugrouten so wenig Menschen wie möglich zu belasten und offen
zu informieren. Dieses Maximum war ein Dreivierteljahr später erreicht:
Flugsicherung und Kommission einigten sich auf einen Entwurf, der den Lärm
im Westen des Airports mindert und bestmöglich verteilt.
Seitdem ist es ruhiger geworden um Bone-Winkel. Ab und zu wird sie als
"Bürgerstimme" im Wahlkampf angefragt. Die Bürgerinitiative trifft sich
noch, hält den Kontakt, allerdings in größeren Abständen. Die
Unternehmensberaterin Bone-Winkel entwickelt Ideen für neue Projekte. Aus
ihrem Job sei sie gewohnt, dass Dinge abgeschlossen werden. Ähnlich hatte
sich zuvor auch die treibende Kraft der Potsdamer Flugroutengegner, Markus
Peichl, geäußert.
Ziel erreicht, Engagement vorbei? Der Soziologe Braun gibt zu bedenken,
dass bei den neuen Protestformen genau zwischen Eigennutz und Gemeinwohl
unterschieden werden müsse. Die wenigsten Wutbürger agierten selbstlos.
Bone-Winkel hingegen sagt: "Eigennutz verselbstständigt sich - die meisten
Stiftungen zum Beispiel werden von Menschen gegründet, die selbst irgendwie
betroffen sind." In der Göttinger Untersuchung hatten die Befragten ihre
Aktivität unisono als taugliches Mittel erklärt, um auf die Entwicklung des
Flughafenbaus Einfluss zu nehmen.
Wissenschaftler bezweifeln indes, dass sich durch den Berliner Wutschrei
die politische Kultur im Land nachhaltig ändert. "Deutschland hat einen
ausgeprägt autoritären historischen Hintergrund, das wirkt auf beiden
Seiten nach", sagt Margit Mayer. Transparenz werde wohl nur dank
kontinuierlichem Druck und weiterer bürgerschaftlicher Begleitung möglich.
Herausforderungen wie die Eurokrise seien hingegen zu abstrakt, sagt Mayer.
Protest richte sich gegen etwas konkret Drohendes, in der Regel in der
eigenen Stadt. Der Traum von der Stadt mit gleichberechtigten Bürgern werde
wohl eine Idealvorstellung bleiben, sagt sie. "Wutbürgertum führt noch
lange nicht dazu, dass die Stadt für alle gerechter wird."
12 Sep 2011
## AUTOREN
Kristina Pezzei
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Schwerpunkt Wahlen in Berlin
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