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# taz.de -- Parlamentswahlen in Lettland: Der filetierte Staat
> Die Wirtschaft wächst wieder, aber nur langsam. 40.000 Letten sind in den
> vergangenen zwei Jahren ausgewandert. Oligarchen teilen den
> 2,2-Millionen-Einwohner-Staat unter sich auf.
Bild: So sieht Harmonie in Lettland aus: der Chef der gleichnamigen Partei, Jan…
RIGA taz | Neugierig begaffen die Passanten die Kuh, die im Zentrum der
lettischen Hauptstadt Riga unweit des Unabhängigkeitsdenkmals steht. Sie
ist knapp einen Meter hoch und aus Pappe. Ihr Leib ist in unterschiedlich
große Felder eingeteilt, die beschriftet sind. "Dieses Filetstück könnte
Dir gehören, wenn es die Oligarchen nicht gestohlen hätten", steht auf dem
Rücken.
Das Rindvieh gehört zu einem Zelt, das der Verein Delna, die lettische
Filiale von Transparency International, heute hier aufgeschlagen hat. An
den Gestängen hängen Plakate mit Softeis, Hamburgern und Pommes frites samt
deren Inhaltsstoffen sowie dem Spruch: "Die Inhalte der politischen
Parteien sind wichtig, sucht Euch das Beste aus" - ein eindringlicher
Appell an die Letten, am 17. September ihr Gehirn einzuschalten.
An diesem Tag, und nur elf Monate nach dem letzten Urnengang, sind die
Bürger der baltischen Republik erneut dazu aufgerufen, über ein Parlament
abzustimmen. Initiator der ersten vorgezogenen Wahlen zur Saeima seit der
Unabhängigkeit 1991 war der frühere Staatspräsident Valdis Zatlers. Im
vergangenen Mai löste der Liberalkonservative und erklärte Kämpfer gegen
Korruption die Volksvertretung auf. Er reagierte damit auf die Weigerung
der Mehrheit der Abgeordneten, die Immunität des zwielichtigen
Geschäftsmanns Ainars Slesers aufzuheben und so den Weg zu Ermittlungen
wegen Korruption frei zu machen. Zu den Blockierern zählte auch die Partei
Bündnis Grüne und Bauern, die mit in der Regierung sitzt und ein
verlängerter Arm des Oligarchen und Bürgermeisters von Ventspils, Aivars
Lembergs, ist.
Bei den Präsidentenwahlen am 2. Juni rächten sich die Volksvertreter an
Zatlers und ließen ihn durchfallen. Drei Wochen später sprachen sich die
Letten mit über 90 Prozent der Stimmen in einem Volksentscheid für
Neuwahlen aus. Slesers ist einer jener drei steinreichen Geschäftsleute,
die das Land fest im Griff haben. Sie kontrollieren die wichtigsten Medien
sowie lukrative Wirtschaftszweige und sind mit Parteien verbandelt.
Aiga Grisane verteilt vor dem Delta-Stand Flugblätter. Bereits seit sieben
Jahren arbeitet die 28-jährige Juristin für den Verein und kümmert sich
jetzt vor allem um die Beschaffung von Geldern. "Hier", sagt sie und deutet
auf zwei Listen, die an einer Leine befestigt sind. Darauf sind alle
Gesetzesprojekte der vergangenen Legislaturperiode verzeichnet und welcher
Abgeordnete wie gestimmt hat. Auffällig ist, dass seit der Verkündung der
Auflösung der Saeima die Aktivität der Parlamentarier sprunghaft
angestiegen ist.
"Monatelang wurde ein Gesetz blockiert, das Medien dazu verpflichtet, ihre
Besitzverhältnisse offenzulegen. Ohne die Initiative von Zatlers wäre das
auch heute noch so. Das zeigt doch, dass unsere Abgeordneten nicht den
politischen Willen haben, etwas zu verändern", sagt Aiga Grisane und fügt
hinzu: "Es ist verdammt hart, in diesem Land nicht korrupt zu sein, um zu
überleben."
Rund 40.000 Letten haben in den vergangenen zwei Jahren ihrer Heimat den
Rücken gekehrt und der Trend hält an. Einer der Hauptgründe dafür ist die
nach wie vor schwierige Wirtschaftslage. Galt Lettland noch vor wenigen
Jahren als "baltischer Tiger", brach die Wirtschaft 2009 komplett ein,
minus 18 Prozent, der stärkste Rückgang unter allen EU-Staaten. Die
konservativ-zentristische Regierung antwortete mit drakonischen Maßnahmen:
In Staatsunternehmen wurden Mitarbeiter entlassen und Gehälter um 25, in
Privatunternehmen um 10 Prozent gekürzt. Zudem wurden Schulen und
Krankenhäuser geschlossen, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wurde
verkürzt und Zuschüsse für den öffentlichen Nahverkehr wurden gekappt.
Doch anders als etwa die leidgeprüften Griechen ertrugen die Letten stoisch
die staatlich verordnete Abmagerungskur. Proteste blieben aus. Lediglich
nach der Wahl des neuen Staatspräsidenten Andris Berzins, dem eine gewisse
Nähe zu millionenschweren lettischen Geschäftsleuten nachgesagt wird,
gingen rund 10.000 Menschen in Riga auf die Straße und verbrannten Puppen,
die die drei Oligarchen symbolisierten.
Mittlerweile scheint das Schlimmste überwunden zu sein, für dieses Jahr
prognostizieren Experten ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent. Die
Arbeitslosigkeit sank von 17,3 Prozent im März vergangenen Jahres auf jetzt
12,6 Prozent. Dennoch: Mit einem Durchschnittsgehalt von umgerechnet 600
Euro und Renten von knapp 200 Euro bei Preisen auf Westniveau kommen viele
kaum über die Runden. Vor allem dieser Umstand könnte der linksgrundierten
Partei Zentrum der Harmonie zugute kommen, die bereits im vergangenen Jahr
gegen den rigiden Sparkurs der Regierung zu Felde gezogen war und auch
jetzt hofft, viele unzufriedene Wähler für sich mobilisieren zu können.
Jüngsten Umfragen zufolge könnte sie mit knapp 19 Prozent stärkste Kraft
werden. Gewählt wird die Partei vor allem von ethnischen Russen, die mit
einem Bevölkerungsteil von 27 Prozent die größte Minderheit stellen.
Nach den Konflikten vor allem in den 90er Jahren hat sich das Verhältnis
zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen zwar nachhaltig verbessert. Doch in
Zeiten des Wahlkampfs werden die ethnischen Trennlinien wieder sichtbar, da
bestimmte Parteien unterschiedliche Befindlichkeiten und Ängste gnadenlos
für ihre politischen Ziele ausnutzen.
Während die Nationalisten für Schulen mit ausschließlich lettischen
Curricula trommeln, werden von russischer Seite einmal wieder Forderungen
nach Einführung des Russischen als zweiter Staatssprache laut. Allein die
bloße Vorstellung, "Harmonie" könnnte nach den Wahlen zum ersten Mal
mitregieren, erfüllt viele Letten mit Grausen, fürchten sie doch, dadurch
wieder mehr unter den Einfluß Moskaus zu geraten.
Genau an diesem Punkt setzt Viktors Makarovs an. Der 38jährige
Politikwissenschaftler will jetzt die Theorie gegen die Praxis tauschen. Er
kandidiert für die "Zatlers Reformpartei", die der abgewählte Staatschef
erst im Juni gründete und die Demoskopen mit 12 Prozent der Stimmen
handeln. "Anstatt Ängste zu schüren und zu instrumentalisieren, müssen wir
sie ernst nehmen und etwas dagegen setzen", sagt er. Konkret bedeutet das:
allen nach 1991 geborenen Kindern russischer Eltern automatisch die
lettische Staatsbürgerschaft anzubieten. Und denjenigen, die älter sind,
die Einbürgerung zu erleichtern. Noch immer sind 14 Prozent der Russen in
Lettland keine Staatsbürger des Landes, weil sie nicht den dafür
erforderlichen Sprach- und Geschichtstest mit Erfolg hinter sich gebracht
haben. Eine fehlende Staatsbürgerschaft bedeutet unfreiwillige Abstinenz
bei Wahlen und Abstimmungen sowie den Ausschluß von bestimmten Posten und
Ämtern - was besonderen Unmut stiftet.
Doch ethnische Zwistigkeiten sind nur eine Baustelle, auf der Sattlers neue
Truppe aufräumen will. Vor allem geht es darum, die Macht der Oligarchen zu
brechen. Endlich Schluß zu machen mit der Privatisierung des Staates durch
kriminelle Netzwerke ausschließlich zu deren Gunsten. "Die Menschen haben
das Vertrauen in die Politik verloren. Wir müssen dafür sorgen, dass sie es
wieder gewinnen", sagt Viktors Makarovs.
Vertrauen in die Politik hatte Andris Vitols noch nie, wenngleich er
Sattlers Partei, deren Kandidaten allesamt Politikneulinge sind, einiges
abgewinnen kann. Der 45jährige ist Direktor von Dailes Teatris, eines der
größten Theater in Riga "Endlich einmal neue Gesichter, vielleicht ist das
ein gutes Omen. Die alten Politiker, die kennen doch die Realität gar
nicht", sagt er. Auch Vitols und seine Mitarbeiter haben die Folgen der
Wirtschaftkrise schmerzhaft zu spüren bekommen. Vor drei Jahren reduzierte
der Staat die Zuwendungen für das Haus um 50 Prozent. Die Folge:
Gehaltskürzungen um 20 Prozent bei gleichzeitiger Erhöhung der
Arbeitszeiten um ein Drittel. "Die Scheiben haben mir meine Leute trotzdem
nicht eingeschlagen", sagt Vitols und grinst. Er intensivierte die Suche
nach Sponsoren und vermietet das Theater jetzt häufiger an andere
Ensembles. Statt 370 Aufführungen im Jahr 2008 hat das Theater heute 493
Veranstaltungen auf dem Spielplan. 86 Prozent der Plätze in den Sälen, von
denen der größte 1000 Zuschauer fasst, sind immer besetzt. "Die Menschen
müssen sparen, aber ins Theater gehen sie trotzdem. Eine alte Angewohnheit
von früher", sagt Vitols. Für dieses Jahr hat das Kulturministerium seine
Subventionen wieder ein wenig aufgestockt - für Vitols ein untrügliches
Zeichen dafür, dass es langsam wieder aufwärts geht. Doch auch wenn
spürbare Verbesserungen erst einmal noch auf sich warten lassen - "wir
arbeiten einfach weiter", sagt Vitols. "Schlimmer als zu Sowjetzeiten wird
es schon nicht werden."
16 Sep 2011
## AUTOREN
Barbara Oertel
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