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# taz.de -- Türkische Internetzensur: Surfen mit dem Kinderpaket
> Zugangsfilter sollen türkische Bürger vor Pornografie und
> "separatistischer Propaganda" schützen. Noch sind sie freiwillig –
> Kritiker befürchten, dass das nicht so bleibt.
Bild: Don't touch my Internet! Proteste in Istanbul im Mai.
ISTANBUL taz | Es war eine der größten türkischen Demonstrationen dieses
Frühjahrs, als im Mai tausende junge Leute auf der Haupteinkaufsmeile von
Istanbul laut gegen eine umfassende Internetzensur protestierten, die die
Regierung gerade angekündigt hatte.
Nachdem sowieso schon hunderte Websites gesperrt worden waren und es auch
um YouTube immer wieder Ärger gab, weil dort abfällige Videos über den
Staatsgründer Atatürk eingestellt wurden, sollte das freie Netz jetzt
endgültig stranguliert werden. Die staatliche "Regelungsagentur für
Informationstechnologie und Kommunikation" hatte angekündigt, dass
Internetnutzer zukünftig zwischen drei Paketen wählen müssen, die allesamt
den freien Zugang zu Informationen einschränken sollen.
Danach sollte es in der Türkei ein "Familienpaket", ein "Kinderpaket" oder
ein "Grundpaket" geben, zwischen denen die Nutzer wählen sollten. In den
ersten beiden Paketen sollten von einer staatlichen Kommission alle
Inhalte, die Kinder oder Familien mit unerwünschtem Material konfrontieren
könnten, vorab wegzensiert werden. Die Aussagen über das "Grundpaket"
blieben schwammig, allerdings kursierte eine Liste mit Begriffen, die
zukünftig nicht mehr im Netz auftauchen sollten und folglich zu
Einschränkungen im Grundpaket geführt hätten.
Begründet wurde das Ganze mit dem Schutz von Familie und Kindern vor
Pornografie oder anderen Inhalten, die den Sittenwächtern nicht passten.
Gleichzeitig wollte man "separatistischer Propaganda" einen Riegel
vorschieben. Doch es zeichnete sich schnell ab, dass ein großer Teil der
türkischen Gesellschaft sich mit dieser weitreichenden Bevormundung durch
den Staat nicht abfinden wollte. Die Demonstration im Mai bleib nicht die
einzige und auch in den Medien wurde das Vorhaben überwiegend scharf
kritisiert. Da Mitte Juni auch noch Wahlen anstanden, verschwand das
Projekt erst einmal.
## Modifizierter Internetfilter
Die Regelungsagentur hat jetzt angekündigt, dass ein modifizierter
Internetfilter nun Ende November in Betrieb gehen soll. Der wichtigste
Unterschied zu den Plänen vom Frühjahr ist, dass es ein "Grundpaket" nun
nicht mehr geben soll, sondern der bisherige Internetzugang für diejenigen,
die das wünschen, unverändert bleiben soll. Stattdessen werden ein Kinder-
und ein Familienpaket angeboten, die man auf Wunsch bei seinem Provider
bestellen kann.
Zur Überwachung dieses "sicheren Internets" wurde eine elfköpfige
Arbeitsgruppe eingesetzt, die der Regelungskommission Vorschläge machen
soll, welche Websites in welchem der beiden Pakte gesperrt werden sollen.
Entgegen den Forderungen von Medienverbänden sind in dieser Arbeitsgruppe
aber nur Vertreter des Informations- und Familienministeriums und keine
unabhängigen Verbände.
Auch wenn es nun doch bis auf weiteres einen Internetzugang ohne
Vorkontrollen geben soll, befürchten die meisten Kritiker, dass über die
Verbotslisten von Sites und Schlüsselbegriffen auf einer schwarzen Liste
der Staat unbemerkt in die Informationsfreiheit seiner Bürger eingreifen
wird. Außerdem steht zu befürchten, dass das Internet in allen öffentlichen
Einrichtungen, vor allem in Schulen und staatlichen Universitäten,
zukünftig nur noch in gefilterter Form zur Verfügung stehen wird.
Schritt für Schritt hat die Regierung Erdogan in den letzten neun Jahren
seit ihrem Machtantritt versucht, regierungskritische Medien auszuschalten
oder zumindest massiv einzuschüchtern. Dazu gehört ökonomischer Druck auf
Medienunternehmen wie den Dogan Konzern, bei dem plötzlich enorme
Steuerschulden festgestellt wurden, und gleichzeitig Festnahmen von
Journalisten, denen unterstellt wird, sie würden insgeheim entweder für die
verbotene kurdische PKK arbeiten oder aber sie seien Sympathisanten von
Putschoffizieren. Derzeit sind rund 70 Journalisten in Untersuchungshaft,
die mit solchen Vorwürfen mundtot gemacht werden sollen.
5 Oct 2011
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
Schwerpunkt Überwachung
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