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# taz.de -- Parlamentswahl in Polen: "So bin ich Sozialistin geworden"
> Wenn sie es ins Parlament schafft, will Alicja Tysiac sich vor allem für
> Frauenrechte einsetzen. Als Opfer des polnischen Katholizismus hat sie
> allen Grund dazu.
Bild: Alicja Tysiac, 40: "Man macht sich gar keine Vorstellung, wie viel Hass i…
WARSCHAU taz | Alicja Tysiac steht vor dem Sejm, dem polnischen
Abgeordnetenhaus in Warschau. Die 40-Jährige mit den blonden Strähnchen im
braunen Haar deutet auf das weiße, halbrunde Gebäude: "Wenn ich es schaffen
würde, das wäre ein Triumph! Es würde mein ganzes Leben verändern. Und das
meiner Kinder natürlich."
Sie lacht übermütig. Doch das Leuchten in ihren Augen hinter den dicken
Brillengläsern verlöscht gleich wieder. Große Chancen rechnet sie sich
nicht aus. "Die Linksallianz (SLD) hat mir nur Platz 5 auf ihrer Liste
gegeben. Ich habe nicht einmal eine eigene Kampagne."
Sie hält einer jungen Passantin ein Flugblatt mit ihrem Bild hin. "Möchten
Sie, dass Frauenfragen im Sejm endlich eine Stimme haben? Dann geben Sie
mir Ihre!"
Alicja Tysiac hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Als erste Polin zog
sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg,
verklagte den polnischen Staat wegen einer erzwungenen und für ihre
Gesundheit hochgefährlichen Geburt - und gewann den Prozess.
Zwar ging Warschau in Berufung gegen die heute fast blinde Mutter, doch das
Gericht sprach 2007 Alicja Tysiac auch in zweiter Instanz eine
Entschädigung zu.
Vor rund elf Jahren hatte ein Arzt der mit ihrem dritten Kind schwangeren
Alicja Tysiac wegen akuter Gefährdung der eigenen Gesundheit zu einer
Abtreibung geraten und ein entsprechendes Attest ausgestellt.
Doch als sie dem Gynäkologen, der den Abbruch vornehmen sollte, das Papier
überreichte, zerriss dieser es vor ihren Augen und behauptete, dass sein
gutes katholisches Gewissen ihm jede Abtreibung verbieten würde. Daraufhin
telefonierte Tysiac einige der privaten Abtreibungspraxen ab.
Offiziell ist Abtreibung auf Wunsch in Polen zwar verboten, doch
Privatpraxen können ganz legal mit dem "Hervorrufen der Monatsblutung" oder
dem Angebot "sämtliche Eingriffe" werben. Da bei Tysiac eine
Risikoschwangerschaft vorlag, schnellte der Preis nach oben:
Die geforderten 5.000 Zloty (ca. 1.500 Euro) hatte Tysiac nicht. Sie war
auch nicht in der Lage, sich das Vierfache ihres damaligen Monatseinkommens
von Freunden zu leihen. So kam Julka zur Welt, und ihre Mutter wurde fast
blind.
## "Hau ab, du Jüdin!"
Auf dem Weg nach Hause bleibt sie vor der St.-Boromeusz-Kirche stehen. Vor
ein paar Tagen feierten die Warschauer hier die Einweihung des neu
gestalteten Vorplatzes mit Bäumen, Blumen und ein paar Sitzbänken. "Ich war
mit meinen drei Kindern hier", erzählt sie. "Plötzlich schrie mich ein Mann
an: Hau ab, du Jüdin! Tysiac (Tausend; d. Red.) ist ein jüdischer Name! Du
Kindsmörderin!"
Sie schüttelt den Kopf: "Man macht sich gar keine Vorstellung, wie viel
Hass in dieser Gesellschaft ist." Sie deutet auf die Kirche: "Die Priester
sind am schlimmsten. Letztens kam meine kleine Julka völlig aufgelöst und
in Tränen von der Schule zurück", erzählt sie.
In der Hand hielt die heute Elfjährige einen Frühstücksbeutel, in dem eine
kleine Plastikpuppe in blutroter Flüssigkeit schwamm. ",Das bist du', haben
die Kinder meiner Tochter gesagt. Und dass ich sie am liebsten im Klo
weggespült hätte." Verstohlen wischt sie sich die Tränen aus den Augen. Das
hätte der Priester den Kindern im Religionsunterricht erklärt.
Zu Hause angekommen, füllt sie ihre Tasche gleich wieder mit den auf dem
Boden gestapelten Wahlbroschüren auf. "Vielleicht schaffe ich es ja doch in
den Sejm", sagt sie. "Dann würde ich alles tun, um den Frauen zu ihren
Rechten zu verhelfen. Als Politikerin hätte ich mehr Möglichkeiten als
jetzt, wo ich nur eine einfache Mutter bin, noch dazu behindert."
## Katastrophale Zustände
Die Wohnung, 70 Quadratmeter, drei Zimmer, Bad und Küche, bekam sie auch
erst nach dem Prozess in Straßburg zugewiesen. Vorher musste sie mit ihren
drei Kindern in einer Einzimmerwohnung mit Kochnische hausen. Die Kinder
konnten nicht richtig lernen. Keiner konnte sich mal zurückziehen. Es gab
ständig Streit.
Erst nachdem mehrere ausländische Fernsehsender gezeigt hatten, in welche
katastrophalen Zuständen das Warschauer Sozialamt seine Schutzbefohlenen
wohnen ließ, wurde ihr eine größere Wohnung zugewiesen. Allerdings ist
diese auch teurer.
Die Invalidenrente und das Kindergeld wurden aber nicht angepasst. "Der
Staat bringt mich in eine Situation, in der ich ständig um Hilfe bitten
muss", erzählt sie und setzt Kaffeewasser auf. "Das ist erniedrigend.
Normalerweise geht man in diesem katholischen Land dann zu einem Priester,
zu Nonnen oder Mönchen. Aber das ist in meinem Fall völlig sinnlos."
Vor gut einem Jahr versuchte sie es noch einmal. Als Krystian, ihr ältester
Sohn, die ständige Hetze in der Schule nicht mehr aushielt und psychisch so
krank wurde, dass er in einem Krankenhaus behandelt werden musste, wandte
sie sich an einen in Warschau für seine Großherzigkeit bekannten Priester.
"Aber es ist völlig sinnlos", erzählt sie.
"Als mich der Priester nur sah und meinen Namen hörte, schrie er schon
,Raus!'. So, als sei ich eine Aussätzige." Am Ende fand sie eine Klinik,
die bereit war, ihren Sohn aufzunehmen. Allerdings 700 Kilometer von
Warschau entfernt. "Ich konnte ihn nur selten besuchen. Die Fahrt war zu
teuer. Und das Sozialamt gab dafür kein Geld."
Sie schenkt Kaffee ein, bietet Kuchen und Obst an. Von draußen dringt der
Straßenlärm herein. Es ist laut. Die Autoabgase kämpfen mit dem Kaffeeduft
um die Lufthoheit. Sie schließt die Balkontür. "Es ist seltsam, nicht wahr,
dass sozial Benachteiligte und Behinderte in einem katholischen Land Hilfe
nur bei linken Parteien finden. So bin ich zur Sozialistin geworden."
## Politik lernen von der Pike auf
Große Illusionen solle man sich aber nicht machen. "Das ist nicht reine
Nächstenliebe. Ich passe ganz einfach ins Profil der Partei. Das ist
alles." Immerhin hat sie es aber so bereits in den Stadtrat Warschaus
geschafft. Seit November 2010 darf sie sich Stadträtin nennen und erhält
eine monatliche Diät in Höhe von 2.500 Zloty (knapp 600 Euro).
"Ich lerne Politik von der Pike auf. Heute verstehe ich viel besser, wie
Politiker auf unser tägliches Leben Einfluss haben. Im Stadtrat betrifft es
nur die Warschauer. Wenn ich im Sejm säße, würde es alle Polen betreffen."
Sie arbeitet in drei Kommissionen mit: Sozialpolitik, Gesundheit und
Euro2012.
Die 17-jährige Tochter Patrycja kommt von der Schule nach Hause, streicht
ihrer Mutter liebevoll über die Arme und nimmt sich ein Stück Kuchen. In
einem Jahr wird sie das Abitur machen. Sie erzählt, dass sie zusätzlich zum
Unterricht noch Literaturvorlesungen hören wolle. Sie strahlt. Alicja
lächelt.
Sie hat für die begabte Tochter einen Platz in einem Warschauer
Elitegymnasium erkämpft. Patrycja lernt gerne. Sie mag die Schule.
Englisch, Spanisch, Arabisch und Literatur sind ihre Lieblingsfächer.
Religion hat sie abgewählt.
## Kirche verklagt
"Ich habe meinen Kindern von Anfang an erklärt, warum ich in meiner
damaligen Situation die Schwangerschaft abbrechen wollte", erklärt sie, als
Patrycja zum Hausaufgabenmachen in ihr Zimmer geht. "Ich bin keine Mörderin
und schon gar keine KZ-Wärterin, die in ihrem Bauch einen Holocaust
veranstalten wollte!" Das klinge absurd, aber das habe ihr der
Chefredakteur des größten katholischen Magazins Gosc Niedzielny (Der
Sonntagsgast) vorgeworfen.
Sie war so empört, dass sie einen Verleumdungsprozess gegen den Priester
und die Diözese von Kattowitz anstrengte. In Polen war das eine Sensation:
ein Beleidigungsprozess gegen die katholische Kirche. Niemals würde sie den
gewinnen, fast alle Bekannten und Freunde hatten ihr abgeraten. Doch dann
geschah das Ungeheuerliche: Der Priester verlor den Prozess und musste sich
in aller Form für den KZ-Vergleich entschuldigen.
"Ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn ich diesen ganzen Ärger nicht
hätte, wenn ich mich nicht gegen diese absurden Anschuldigungen wehren
müsste." Aber sie wolle das nicht auf sich sitzen lassen. "Ich habe auch
ein Recht auf meine Menschenwürde!" Sie habe bereits mehrfach ihre damalige
Motivation erklärt. Es sei nicht Hass gewesen oder der Wunsch, aus ihrem
Bauch ein polnisches KZ zu machen. "Das ist Quatsch!
Ich wollte den beiden Kindern, die bereits auf der Welt waren, weiterhin
eine gute Mutter sein", sagt sie. Der Arzt hatte ihr erklärt, dass sich
ihre Sehkraft massiv verschlechtern werde, wenn sie die dritte
Schwangerschaft austrage, ja, dass sie blind werden könnte. Dann aber würde
sie die Kinder verlieren. Alle drei müssten ins Heim, und sie selbst in
eine Behindertenanstalt.
"Ist das falsch, wenn man eine gute Mutter sein will? Ist das vielleicht
unchristlich? Ich verstehe diesen Priester bis heute nicht."
7 Oct 2011
## AUTOREN
Gabriele Lesser
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