# taz.de -- Regisseurin Chantal Akerman: "Ich war ein altes Kind und bin es noc… | |
> In Wien läuft eine Werkschau der großen Regisseurin Chantal Akerman. Ein | |
> Gespräch über Motive ihres Lebens, Essen, die Bibel und Psychoanalyse. | |
Bild: Eigensinnig: Chantal Akerman im September bei der Präsentation ihres jü… | |
taz: Frau Akerman, das allererste Bild in Ihrem neuen Film "La folie | |
Almayer" zeigt eine Wasseroberfläche in der Nacht, dazu erklingt Musik - | |
Richard Wagners "Tristan und Isolde". | |
Chantal Akerman: Ja, während die Credits laufen, das Prélude zu "Tristan | |
und Isolde". Ich weiß, in Lars von Triers "Melancholia" wird es auch | |
verwendet. Als ich den Film sah, habe ich zu mir gesagt: "Scheiße, der Kerl | |
benutzt dieselbe Musik!". Aber ich benutze sie anders. | |
Wie denn? | |
Das hängt jeweils von den Bildern ab - es kann weich und sanft sein oder | |
dramatisch, es kann vielen unterschiedlichen Gefühlen Ausdruck verschaffen. | |
In "La captive" habe ich ausgiebig Rachmaninows "Die Toteninsel" verwendet, | |
und jedes Mal, wenn man einen Ausschnitt hörte, hatte das eine andere | |
Wirkung. Vielleicht ist "Die Toteninsel" weniger bekannt als "Tristan", das | |
weiß ich nicht genau, denn ich bin kein besonders bildungsbürgerlicher | |
Mensch, ich bin mit 15 von der Schule abgegangen. Klassische Musik war für | |
mich etwas, was anderen gehörte, bis ich mit jemandem zusammenlebte, der | |
Cello spielte, und nach und nach entdeckte, dass ich sehr wohl Zugang zu | |
dieser Welt haben konnte. | |
Weil man nicht zu einer bestimmten Schicht gehören muss, um klassische | |
Musik zu genießen? | |
Genau. Wie beim Kino auch: Angeblich sind meine Filme ja nichts für ein | |
Massenpublikum, aber wer entscheidet das schon? | |
Die Frage nach dem Dazugehören ist ja auch im Film zentral. Sie adaptieren | |
einen Roman von Joseph Conrad, "Almayers Wahn", der in einem nicht näher | |
bestimmten Land in Südostasien spielt. Die beiden Hauptfiguren, der | |
Entrepreneur Almayer und seine aus einer Verbindung mit einer Einheimischen | |
hervorgegangene Tochter Nina, wirken fehl am Platz. | |
Ja. Eigentlich gehört nur die Mutter an den Platz, an dem sie ist, und die | |
wird verrückt, nachdem die Tochter ins Internat geschickt wird. Und dann | |
vielleicht noch der Chinese, der ja eine Art Erzähler ist. Ich habe beim | |
Schreiben viel verändert. Am Anfang war ich sehr dicht an Joseph Conrads | |
Buch dran. Aber je mehr Zeit ich damit verbrachte, in Kambodscha nach | |
Drehorten zu suchen, umso mehr wirkte sich das Land auf mein Schreiben aus. | |
Allmählich wurde mir klar, dass ich das Mädchen in den Mittelpunkt rücken | |
wollte. Warum sollte ich einzig von diesem Kerl Almayer sprechen? Beide | |
Figuren haben Züge von mir, der Vater und die Tochter, der Mann, der alles | |
verliert und verrückt wird, und die starke, junge Frau. Ich bin beide. | |
Das müssen Sie mir näher erklären. | |
Nun, ich kann Ihnen nicht alles erzählen. Ich bin manisch-depressiv. Meine | |
Mutter ist aus den Lagern zurückgekommen, sie hat Auschwitz überlebt, viele | |
Mitglieder meiner Familie sind gestorben. Sie hat nie ein Wort gesagt, aber | |
als Kind habe ich das alles gespürt. Ich war ein altes Kind und bin's noch | |
immer, ich kam nicht von der Stelle, höchstens in meinem Kopf. | |
Auch nicht in Ihrer Arbeit? | |
Vielleicht mit diesem Film. Alle meine Filme sind minimalistisch. Aber bei | |
diesem habe ich gepusht und gepusht, und es gibt eine Öffnung, etwas | |
Machtvolles. In Kambodscha habe ich mich frei gefühlt. Ich bin im | |
Schlafanzug ans Set gekommen, hatte nicht vorbereitet, was wir drehen | |
würden, ich wollte den Schauspielern ihre Freiheit lassen. Zu Stanislas | |
Merhar, dem Darsteller von Almayer, sagte ich: "Du hast allen Freiraum, den | |
du brauchst. Wir drehen die und die Szene, mach's einfach." Zum Kameramann | |
sagte ich: "Bitte ihn bloß nicht darum, an einer Markierung haltzumachen." | |
Braucht man nicht sehr viel Zeit, um so zu arbeiten? | |
Nein, wir haben schnell gearbeitet, wir haben weniger als sieben Wochen | |
gebraucht, was man dem Film nicht ansieht. | |
Zumal die Einstellungen ziemlich kompliziert wirken. | |
Alle haben sehr engagiert mitgemacht. Am Anfang haben wir immer nur einen | |
Take gedreht. Nach einer Woche hieß es aus dem Labor: Da sind Kratzer. Also | |
mussten wir mehr Takes drehen. Ich dachte: "Mist, ein Take ist doch so | |
aufregend!" | |
Diese Einstellungen dauern lange, und die Kamera bewegt sich langsam. | |
Aber sie bewegt sich - die ganze Zeit! Natürlich ist mein Film nicht | |
"Matrix" - und er ist schneller als meine übrigen Filme. | |
Trotzdem ist man sich der Anwesenheit der Kamera stets bewusst, weil sie | |
sich langsamer bewegt als das menschliche Auge. | |
Aber schauen Sie mal: Sie können doch auch so gucken (sie macht eine sehr | |
langsame Bewegung mit den Augen). Die Kamera folgt der Figur, sie ist nicht | |
frei. Das heißt: Bewegt sich die Figur langsam, dann ist auch die | |
Kamerabewegung langsam. Bewegt sich die Figur schnell, ist die Kamera | |
schnell. | |
Der Film entwickelt eine große Sensibilität für die Landschaft, für den | |
Fluss und den Wald. | |
Ich habe Kambodscha geliebt, die Hitze, die Natur. Ich habe in den Fluss | |
gepinkelt, ich bin geschwommen, ich habe mich so frei gefühlt. | |
Als Filmemacherin sind Sie ja viel unterwegs, Sie haben in den USA gedreht, | |
in Tel Aviv und jetzt in Kambodscha. Zugleich geht es immer wieder um | |
Figuren, die in engen Räumen eingeschlossen zu sein scheinen. Woran liegt | |
das? | |
Man kann sich selbst nicht loswerden. Das hat auch mit der Geschichte | |
meiner Mutter zu tun. Ich will nicht sagen, dass ich es im Blut hätte, das | |
ist ein dummer Ausdruck. Aber irgendwo in meinen Zellen steckt dieses | |
Gefühl, dass ich im Gefängnis sitze. Zugleich will ich ja wie ein Schwamm | |
sein und alles aufsaugen, was ich sehe. Ich möchte vor dem Drehen keine | |
Idee im Kopf haben, denn dann würde ich nur diese Idee finden und sonst | |
nichts anderes wahrnehmen. Aber mein Gefängnis ist überall. Und sicher, wir | |
haben heute die Psychoanalyse … Ich bin so viele Jahre hingegangen, aber | |
geholfen hat es nichts. | |
Kein bisschen? | |
Vielleicht ein bisschen. Aber weil ich so oft unterwegs bin, kann ich nur | |
unregelmäßig hingehen. Wissen Sie, ich bin nicht gläubig, aber ich mag das | |
Buch Exodus sehr. Nachdem Moses das Meer geteilt und die Juden aus Ägypten | |
und aus der Sklaverei herausgeführt hat, lässt Gott ihnen 40 Jahre in der | |
Wüste. Nicht nur wegen der Sache mit dem Goldenen Kalb, sondern damit sie | |
alle Zeichen der Sklaverei verlieren, bevor sie in Kanaan ankommen. Aber | |
den Schwarzen und den Juden, die die Sklaverei überwunden hatten, standen | |
diese 40 Jahre nicht zur Verfügung. Und deswegen kämpfen sie damit, manche | |
kommen besser damit klar, andere schlechter. Für mich war es sehr | |
schwierig, mich von meiner Mutter zu lösen. | |
Warum? | |
Weil sie so vieles hat erleiden müssen. Aber wenn man sich nicht löst, kann | |
man nicht atmen. Meine Schwester ist acht Jahre später als ich zur Welt | |
gekommen, das war 1958, da ging es meiner Mutter schon besser, und sie hat | |
von alldem nichts mitbekommen. | |
Hatten Sie noch mehr Geschwister? | |
Nein. Und die Schwester habe ich, weil ich es wollte! Meine Mutter sagte | |
immer, ein Kind zur Welt zu bringen sei ein Albtraum. Stellen Sie sich mal | |
vor, wie das ist, wenn Sie das als Kind hören. Irgendwann wurde ich in die | |
Schweiz geschickt, in ein Heim für Kinder, die nicht richtig essen. Ich aß | |
zwar nicht viel, aber genug, um nicht zu verhungern. Als | |
Auschwitz-Überlebende war meine Mutter besessen, wenn es ums Essen ging. | |
Als ich nach drei Monaten aus der Schweiz zurückkam, sagte sie mir, dass | |
ich einen Bruder oder eine Schwester bekommen würde. Natürlich hat sie das | |
für sich getan, aber ich war diejenige, die darauf bestanden hatte. Denn | |
ich wollte nicht die ganze Zeit allein sein. Meine Mutter war ängstlich und | |
ließ mich nicht auf der Straße spielen, ich saß die ganze Zeit am Fenster | |
und schaute nach draußen. Vielleicht bin ich deshalb Filmemacherin | |
geworden. | |
15 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
Cristina Nord | |
## TAGS | |
Buch | |
Film | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch über Regisseurin Chantal Akerman: Lebenslange Wunde | |
In ihrem Buch „Chantal Akermans Verschwinden“ folgt Tine Rahel Völcker | |
einigen Spuren der jüdischen Identität der Filmemacherin. Sie führen bis | |
nach Polen. | |
Nachruf auf Chantal Akerman: Sie filmte einfach hinein ins Treiben | |
Ihre Filme waren eigenwillig und von einem hypnotischen Sog. Mit 65 Jahren | |
ist die belgische Regisseurin Chantal Akerman gestorben. |