# taz.de -- Debatte palästinensische Flüchtlinge: Zahlen statt Kalkül | |
> Eine Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblems ist möglich - wenn | |
> sich beide Seiten auf die realpolitische Dimension konzentrieren. | |
Im November 1947 beschloss die UNO-Generalversammlung die Gründung zweier | |
Staaten auf dem Territorium des bisherigen britischen Mandatsgebiets | |
Palästina: eines israelischen und eines palästinensischen. Im Zuge der | |
nachfolgenden israelisch-palästinensisch/arabischen | |
Gewaltauseinandersetzungen wurden bis Mitte 1948 rund 720.000 Palästinenser | |
aus ihren Heimatorten im künftigen Staat Israel vertrieben. Die Frage der | |
Rückkehr dieser Flüchtlinge gilt gemeinhin als das bei Weitem schwierigste | |
Problem aller Detailprobleme des Nahostkonflikts. | |
Nicht wenige Beobachter halten eine befriedigende Lösung der Rückkehrfrage | |
sogar für unvorstellbar. Und deshalb, so lautet eine weitverbreitete | |
resignierte Schlussfolgerung, könne es auch keine umfassende | |
Friedensvereinbarung zwischen Israelis und Palästinensern geben. Doch diese | |
Einschätzung ist falsch. Sie konnte nur entstehen, weil mit Blick auf die | |
Flüchtlingsfrage seit vielen Jahren mit falschen und irreführenden | |
Informationen, Zahlen und Behauptungen operiert wird. | |
## Kalkül auf beiden Seiten | |
Das gilt für die politischen Positionen und Forderungen der | |
Konfliktparteien genauso wie für die Völkerrechtslage und die | |
realpolitische Größenordnung des zu bewältigenden Problems. Zum Teil - etwa | |
bei der israelischen Regierung von Premier Benjamin Netanjahu oder der | |
islamistischen Palästinenserorganisation Hamas - geschieht das mit voller | |
Absicht. Kalkül ist, eine Lösung der Flüchtlingsfrage - und damit eine | |
umfassende Friedensvereinbarung zwischen Israel und Palästina - zu | |
verhindern. | |
In einer Rede vor der UNO-Generalversammlung begründete | |
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas Ende September seinen Antrag auf | |
Anerkennung des Staates Palästina und dessen Aufnahme in die UNO. In einem | |
[1][Kommentar zu der Abbas-Rede] schrieb taz-Kollege Klaus Hillenbrand: "Es | |
kommt endlich auf realpolitische Schritte zum Frieden an. Und sowenig der | |
Ausbau jüdischer Siedlungen im Westjordanland dazu passt, so wenig hilft | |
das von palästinensischer Seite propagierte Recht auf eine ,Rückkehr' aller | |
Vertriebenen nach Israel." | |
Doch Abbas hatte die Worte "Recht" und "Rückkehr" in seiner Rede überhaupt | |
nicht benutzt. Zum Thema Flüchtlingsrückkehr erklärte der Präsident | |
lediglich: "Wir wollen eine gerechte und für beide Seiten vertretbare | |
Lösung der Frage der palästinensischen Flüchtlinge in Übereinstimmung mit | |
der UNO-Resolution." | |
## Kein bedingungsloses Recht | |
Mit der Resolution 194 beschloss die UNO-Generalversammlung im Dezember | |
1948 keineswegs ein bedingungsloses Recht auf Rückkehr aller Vertriebenen. | |
Sie verfügte lediglich, "dass diejenigen Flüchtlinge, die in ihre Heimat | |
zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben möchten, die Erlaubnis | |
erhalten sollten, dies zum frühesten durchführbaren Zeitpunkt zu tun, und | |
dass für das Eigentum derjenigen, die beschließen, nicht zurückzukehren, | |
eine Entschädigung gezahlt werden sollte, ebenso wie für den Verlust von | |
oder den Schaden an Eigentum, welcher gemäß den Grundsätzen des | |
Völkerrechtes oder des Billigkeitsrechtes von den verantwortlichen | |
Regierungen oder Behörden ersetzt werden sollte". | |
Auf die Resolution 194 stützt sich auch die Ende 2002 von Saudi-Arabien | |
vorgelegte Friedensinitiative der Arabischen Liga. Und bereits bei den von | |
den USA vermittelten Verhandlungen von Camp David im Jahre 2000 sowie den | |
israelisch-palästinensischen Direktgesprächen der Jahre 2007/8 legte Abbas | |
bzw. sein Vorgänger Jassir Arafat konkrete Zahlen vor für eine begrenzte, | |
über mindestens zehn Jahre erfolgende Rückkehr von maximal 500.000 | |
Flüchtlingen. | |
Das wären nur knapp 10 Prozent der nach dem Völkerrecht | |
Rückkehrberechtigten. Denn laut der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 | |
ist das Rückkehrrecht ein Individualrecht. Es kann weder von einer | |
Regierung noch durch einen Friedensvertrag oder andere zwischenstaatliche | |
Vereinbarungen aufgehoben werden. | |
Dieses Individualrecht auf Rückkehr haben alle noch lebenden Palästinenser, | |
die 1947/48 vom Territorium Israels vertrieben wurden - und auch ihre | |
Kinder und Kindeskinder. Das sind inzwischen insgesamt rund 5,1 Millionen | |
Menschen. Davon leben rund 4 Millionen im von Israel besetzten | |
Westjordanland sowie in Jordanien, Libanon und weiteren arabischen Staaten. | |
Der Rest ist nach Nordamerika, Europa, Australien und in andere | |
Weltregionen ausgewandert. | |
## Zehn Prozent wollen zurück | |
Trotzdem hören alle konstruktiven Diskussionen über eine Lösung des | |
Nahostkonflikts spätestens dann auf, wenn die Zahl "5,1 Millionen" | |
Rückkehrberechtigte in den Raum gestellt wird. Denn eine Ansiedlung | |
derartig vieler Palästinenser auf dem kleinen Territorium Israels können | |
sich - aus demografischen Gründen genauso wie aufgrund der begrenzten | |
Ressourcen - selbst die friedens- und kompromissbereitesten Vertreter aller | |
Seiten nicht vorstellen. | |
Doch das ist auch gar nicht erforderlich. Denn tatsächlich nach Israel | |
zurückkehren wollen nach allen hierzu vorliegenden Untersuchungen maximal | |
10 Prozent der Berechtigten. | |
Nach einer groß angelegten Untersuchung, die das palästinensische | |
Umfrage-Forschungsinstitut in Ramallah gemeinsam mit der Hebräischen | |
Universität in Jerusalem bereits 2003 unter den 3,7 Millionen | |
palästinensischen Flüchtlingen in Jordanien, Libanon und dem Westjordanland | |
durchführten, würden von dort lediglich etwa 370.000 Menschen nach Israel | |
zurückkehren wollen. Erhebungen unter den Flüchtlingen in anderen | |
arabischen Staaten ergaben ebenfalls eine Quote von rund 10 Prozent | |
Rückkehrwilligen nach Israel. | |
Auf diese realpolitische Dimension des Rückkehrproblems sollte sich | |
konzentrieren, wer tatsächlich an einer gerechten und für beide Seiten | |
vertretbaren Lösung interessiert ist. Ein konkretes, bis in letzte Detail | |
ausgearbeitetes Modell für eine solche Lösung enthält die von | |
friedensbereiten Israelis und Palästinensern ausgehandelte und bereits im | |
Dezember 2.003 veröffentlichte "Genfer Initiative". | |
16 Oct 2011 | |
## LINKS | |
[1] /!78871/ | |
## AUTOREN | |
Andreas Zumach | |
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