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# taz.de -- Erste freie Wahlen in Tunesien: Ein historischer Tag für Arabien
> Auf den Listen stehen bis zu 90 Parteien. Da fällt Hamza Manzou die Wahl
> bei der Abstimmung nicht leicht. Doch der Stolz überwiegt - denn es ist
> auch seine Geschichte.
Bild: Warten wie Hamza Manzour auf die Stimmabgabe - hier in der Hauptstadt Tun…
KASSERINE taz | "Ich habe das erste Mal in meinem Leben gewählt und dann
gleich bei solchen Wahlen", sagt Hamza Manzour. Sichtlich gerührt kommt der
21-Jährige aus dem Wahllokal in der Cité Ezohour - der Siedlung der Blumen
- in Kasserine. Wie zum Beweis hebt er seinen eingefärbten Zeigefinger
hoch. Dunkle Tinte soll Wahlbetrug verhindern.
Seit der Öffnung der Grundschule in einem der ärmeren Viertel der
westtunesischen Stadt hat sich wie überall im Lande eine lange Schlange
gebildet. Geduldig warten die Menschen, bis sie ihren Stimmzettel in die
transparente Urne stecken können. "Es ist ein historischer Tag", beteuert
Manzour. Tunesien wählt nur neun Monate nach dem Sturz des Diktators Zine
El Abidine Ben Ali eine verfassunggebende Versammlung.
Die dunkeln Augen von Manzour sind feucht. "Mir ging alles wieder durch den
Kopf, als ich an der Urne stand", sagt er. "Alles", das ist seine
Geschichte und die von Kasserine während der Proteste, die zum Sturz des
Präsidenten führten. "Vom 8. bis zum 11. Januar war die Stadt völlig von
der Außenwelt abgeriegelt", berichtet Manzour. Die Jugendlichen gingen Tag
für Tag auf die Straße, nachdem sich in der Nachbarprovinz, in Sidi Bouzid,
ein junger Gemüsehändler aus Frust über die soziale Lage selbst verbrannt
hatte. Die Polizei zog Kräfte aus ganz Südtunesien zusammen.
## "Genug vom schlechten Leben"
Als alles nichts half, kam der Schießbefehl. Angeblich gab es gar
Überlegungen, zu bombardieren. 52 Menschen verloren ihr Leben, über 200
wurden zum Teil schwer verletzt. Manzour war einer von ihnen. Er zeigt die
Schusswunde am Halsansatz und die Austrittstelle am rechten Schulterblatt.
"Das war am 11. Januar. Die Polizisten schossen mit Gewehren ganz gezielt,
um zu töten", sagt er. 14 Tage wurde er im Krankenhaus behandelt - fast
stets auf der Intensivstation.
"Wir hatten einfach genug vom schlechten Leben", erzählt Manzour. Er selbst
hat nur einen Hauptschulabschluss. Arbeit gibt es in der
100.000-Einwohner-Stadt Kasserine so gut wie keine. Eine Zellulosefabrik
ist das einzige große Unternehmen. Einst arbeiteten hier 5.000, heute sind
es noch ein paar hundert.
Auch Manzour hatte keine Arbeit. Immer wieder muss er in die Klinik in der
vier Autostunden entfernten Hauptstadt Tunis. Die medizinische Versorgung
bestreitet er mit einer kleinen Invalidenrente von umgerechnet 120 Euro im
Monat. Ansonsten schlägt er seine Tage auf der Straße oder im Kaffeehaus
tot. Facebook und Internet mag er nicht. Wenn überhaupt, nutzt er einen
Computer, um tunesischen Rap zu hören.
## "Keine Ahnung von Politik"
Manzour ist stolz auf den Beitrag von Kasserine zur Revolution. Keine Stadt
hat so viele "Märtyrer" wie seine, die seit je als rebellisch gilt. Ob bei
Aufständen gegen die französische Kolonialmacht oder bei den Protesten
gegen Preiserhöhungen in den 80ern, Kasserine zahlte immer mit vielen
Toten. "Geändert hat sich seit Januar nur wenig", sagt der junge Mann
resigniert. Es seien noch immer die Gleichen in der Verwaltung wie unter
Ben Ali. Arbeitsprogramme gebe es nicht, die Unterstützung der
Repressionsopfer sei viel zu gering. Deshalb geht Manzour bis heute auf
jede Protestaktion gegen die Jugendarbeitslosigkeit.
Er hofft, dass die verfassunggebende Versammlung und die daraus
hervorgehende Übergangsregierung endlich etwas unternehmen. Lange tat er
sich mit der Entscheidung, wen er wählt, schwer: "Ich habe keine Ahnung von
Politik. Es treten so viele Parteien an." Er fühlt sich wie viele Tunesier
völlig überfordert. Dabei sind es in Kasserine "nur" 50 Listen, die auf dem
Wahlzettel stehen. In anderen Provinzen sind es bis zu 90. "Die Linke
gefällt mir nicht", sagt Manzour. Deren Führer hätten bereits unter Ben Ali
als geduldete Opposition Politik gemacht. Das mache sie unglaubwürdig.
Als er aus dem Wahllokal kommt, berichtet er dann, wem er sein Vertrauen
geschenkt hat: den Islamisten von Ennahda. Die Partei, die aller
Voraussicht nach mit großem Abstand stärkste Kraft in dem neuen, weit
gefächerten Parlament werden wird, sei immer in der Opposition gewesen.
Viele ihrer Mitglieder haben dafür mit langen Haftstrafen bezahlt. "Sie
respektieren Kasserine, die Märtyrer und die Werte der Religion", erklärt
Manzour.
23 Oct 2011
## AUTOREN
Reiner Wandler
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