| # taz.de -- Occupy-Bewegung in Deutschland: Angela Merkel liebt euch | |
| > Auch die Mächtigen verstehen die Antibankenproteste, allen voran die | |
| > Bundeskanzlerin. Was ist davon zu halten? | |
| Bild: TeilnehmerInnen der Occupy-Demo in Köln vom 15.10. können der Umarmung … | |
| Steffen Seibert, der wendige Regierungssprecher, fungierte diesmal als | |
| Postillon d'Amour Angela Merkels. In ihrem Auftrag erklärte Seibert, die | |
| Bundeskanzlerin sehe in den "Occupy"-Kundgebungen der letzten Wochen "eine | |
| gerechtfertigte Meinungsäußerung". Sie lieferte auch gleich eine | |
| Interpretation mit. Gerechtfertigt sei der Protest insofern, als sich "in | |
| den Demonstrationen eine tiefe Sorge ausdrückt und auch ein | |
| Gerechtigkeitsverlangen der Menschen". | |
| Allerdings dürfe man nicht dem Irrtum verfallen, "die Schuld an der | |
| derzeitigen Finanzkrise ausschließlich, weil es so einfach ist, bei den | |
| Banken abzuladen". Wer außer der Teilschuld der Banken sich sonst noch | |
| schuldig gemacht hat, lässt die Kanzlerin im Dunkeln. Eine geschickte | |
| Seitenverbeugung vor der Bankenlobby, die bekanntlich die Eurokrise auf die | |
| Staatsverschuldung zurückführt. | |
| Wir müssen den Menschen zuhören." "Wir müssen sie ernst nehmen." "Wir | |
| müssen die Sorgen der Menschen verstehen." "Verstehen" ist die | |
| Standardformel jeder Strategie, die Empathie zeigt, sich aber gleichzeitig | |
| zu nichts verpflichtet. Dass dieser vorsorgliche Umarmungsversuch der | |
| Kanzlerin nicht sogleich von den Protestierenden der Lächerlichkeit | |
| preisgegeben wurde, hängt auch mit deren Selbstverständnis zusammen. Der | |
| bisherige deutsche Protest macht sich die aus den USA herübergeschwappte | |
| Parole zu eigen, wonach 99 Prozent der Bürger die Kampfansage gegen die | |
| Banken teilen. Den Bankern und Brokern bleiben als Feinde nur das schäbige | |
| restliche eine Prozent. Bei dieser allumfassenden Koalition muss es doch in | |
| der Protestphalanx auch ein Plätzchen für Angela Merkel geben. | |
| ## Lehrbeispiel APO | |
| Man kann die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auch unter dem | |
| Blickwinkel sehen, wie Protestbewegungen von den Machteliten umgarnt, | |
| gespalten und ausgesaugt worden sind. Instruktiv ist das Lehrbeispiel der | |
| Außerparlamentarischen Opposition in den 60er Jahren, die ursprünglich ganz | |
| überwiegend das gesellschaftliche und politische System der Bundesrepublik | |
| abgelehnt hatte. | |
| Hiergegen wurde von der sozial-liberalen Koalition nach 1969 auf mehreren | |
| Fronten operiert. Zunächst wurde eine generelle Amnestie für politische | |
| Straftäter erlassen (wovon der Verfasser dieser Zeilen nicht wenig | |
| profitierte). Wer aber vom Radikalismus nicht abließ, den trafen die | |
| Ausschlussmaßnahmen. Die Berufsverbote sind das bekannteste Beispiel. | |
| Gleichzeitig eröffnete die sozialliberale Regierung den vormals Radikalen | |
| in den neu gegründeten Universitäten und den von der sozialliberalen | |
| Koalition dominierten Organisationen breite Karrierechancen. Es war das | |
| letzte Mal, dass den darbenden Parteivampiren frisches Blut zugeführt | |
| wurde. Aber die Einverleibung hatte ihren Preis. Während die Radikalen | |
| politisch unterlagen, öffneten sie gleichzeitig den gesellschaftlichen | |
| Horizont für emanzipatorische Lebens- und Arbeitsweisen. Wogegen die | |
| "geistig-moralische Wende" der Kohl-Regierung nichts mehr ausrichten | |
| konnte. | |
| ## Neutralisierung durch die Grünen | |
| Die neuen sozialen Bewegungen seit den 70er Jahren, vor allem die Frauen-, | |
| die Friedens- und die Antiatombewegung, stellten die westdeutschen | |
| Machteliten vor eine weitaus komplexere Einverleibungs- und | |
| Ausgrenzungsaufgabe. Der Knüppel des Antikommunismus, der so erfolgreich | |
| gegen die Linksradikalen geschwungen worden war, büßte gegenüber der | |
| Friedensbewegung an Wirkung ein. | |
| Es war den Gegnern der Stationierung von Mittelstreckenraketen einfach | |
| nicht zu vermitteln, dass diese Maßnahme aus Sicherheitsgründen notwendig | |
| war. Weshalb ein Teil der Sozialdemokratie auf die Positionen der | |
| Friedensbewegung umschwenkte, freilich ohne diese absorbieren zu können. | |
| Alle diese sozialen Bewegungen verfügten über einen soliden | |
| wissenschaftlichen Vorlauf, operierten mit schlüssigen | |
| Argumentationsketten, formulierten ein klares Angriffsziel und verfügten | |
| über effektive Organisationsformen. | |
| Zunächst konnte seitens der Machteliten erfolgreich gegen die Antiatom- und | |
| Ökologiebewegung mit dem Vorwurf operiert werden, sie sei | |
| rückwärtsorientiert und fortschrittsfeindlich, elitär und stelle den | |
| Lebensstandard der Lohnabhängigen in Frage. Dieser Spaltungsversuch endete | |
| mit dem Schwenk der Gewerkschaften hin zur Vorstellung einer ökologisch | |
| grundierten Industriegesellschaft. | |
| Mit der Gründung der Grünen Partei eröffnete sich eine neue Chance, | |
| kritisches Potenzial aufzusaugen und radikalen Protest zu neutralisieren. | |
| Der atomare Ausstiegskompromiss der rot-grünen Koalition von 1999 schwächte | |
| die Antiatombewegung ebenso, wie die Zustimmung der Grünen zum | |
| Kosovo-Einsatz die Hoffnungen der Friedensbewegung auf eine "Zivilmacht | |
| Deutschland" frustrierte. Schließlich zerschnitt die Zustimmung der Grünen | |
| zur Agenda 2010 die Verbindung zu linken Kräften und schwächte das gesamte | |
| Reformpotenzial. | |
| ## Abstrakte Phrasen oder konkretes Programm? | |
| So ausgepowert sah Angela Merkel die Anti-AKW-Bewegung, dass sie die | |
| Verlängerung der AKW-Laufzeiten ohne nennenswerten gesellschaftlichen | |
| Protest durchzubringen hoffte. Diese Konfrontation erwies sich als schwerer | |
| Fehler. Wie aus dem Nichts trat die Anti-AKW-Bewegung erneut hervor. Nach | |
| der Katastrophe von Fukushima drehte sich das politische Szenario | |
| vollständig um. | |
| Obwohl Fukushima die langjährige Argumentation der AKW-Gegner nur | |
| bestätigte, war die Katastrophe für Merkel die Ursache für eine angeblich | |
| neue Sicht. Ihr politischer Seitenwechsel mag taktischem Kalkül | |
| entspringen. Tatsächlich besiegelt er die Hegemonie des ökologischen | |
| Diskurses in der politischen Kultur Deutschlands. | |
| Wird Angela Merkels Anbiederung an die Occupy-Bewegung der Beginn eines | |
| wirksamen Einverleibungs-Manövers sein? Das hängt ganz davon ab, ob die | |
| Kritik seitens dieser Bewegung am Bankensystem im Abstrakt-Allgemeinen | |
| verbleibt und ob sie die "Zockerbuden" ganz unabhängig von der Entwicklung | |
| des Kapitalismus analysiert. Oder ob sie es schafft, sich ein konkretes | |
| Forderungsprogramm und eine arbeitsfähige Struktur zuzulegen. | |
| Aber warum sollte das eigentlich nicht möglich sein? | |
| 23 Oct 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Semler | |
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