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# taz.de -- Debatte Merkels Politikstil: Die Knetmasse-Kanzlerin
> Jetzt noch der Mindestlohn: Angela Merkel kapert linke Ideen so schnell,
> dass den Christdemokraten schwindlig wird. Progressiv ist sie aber noch
> lange nicht.
Bild: Merkel tastet sich zögerlich voran, sie macht in der Krise nur das Nöti…
Das Image der Angela Merkel erlebt eine seltene Renaissance. Hatten viele
Kommentatoren noch vor Kurzem ihre Kanzlerschaft als schrottreifes
Auslaufmodell beschrieben, ist Merkel plötzlich wieder obenauf. Als
führungsstarke Kämpferin für den Euro an der Krisenfront wird sie jetzt
gelobt, und als christdemokratische Modernisiererin, die der CDU auch noch
den Mindestlohn beibringt.
Interessant ist dabei, wie erstaunlich gut die Kanzlerin im
alternativ-bürgerlichen Milieu ankommt. Gern taucht in Debatten in Biocafés
gerade die Frage auf, ob Merkel nicht in Wirklichkeit die bessere
Sozialdemokratin ist als jemand wie Peer Steinbrück.
In der Tat, wenn es eine Konstante gibt in Merkels zweiter Amtszeit, dann
diese: Die nächste Revolution kommt gewiss. Merkel hat ihre Partei seit
2009 schwindelerregend reformiert. Innenpolitische Grundsätze, die
jahrzehntelang zum CDU-Wertegerüst gehörten, hat sie innerhalb von Wochen
geschleift.
Die Beispiele sind bekannt, jedes für sich stellt eine Umwälzung dar: Die
Christdemokraten verabschieden sich unter Merkel von der Wehrpflicht, von
der Hauptschule und von der Atomenergie, eine Frauenquote ist zumindest
kein Tabu mehr, und jetzt kommt noch der Mindestlohn.
## Die CDU auf den Zeitgeist gebracht
Was in der CDU in Stein gemeißelt schien, nimmt Merkel wie bunte
Spielzeugknete in die Hand - und modelliert etwas Neues. Eine weiche,
geschmeidige, grün-sozialdemokratische CDU für alle.
Unbestritten war es überfällig, die christdemokratische Programmatik an den
Zeitgeist anzupassen. Das wird als ein großes Verdienst von Merkels Ära
übrig bleiben. Ohne ihre Korrekturen würde die Partei der
gesellschaftlichen Realität immer noch ein, zwei Jahrzehnte
hinterherhinken. Merkel hat eine zunehmende Dissonanz zwischen der CDU und
der Wirklichkeit aufgelöst und die Partei so ins 21. Jahrhundert geführt.
Oft dadurch, dass sie das tat, was sie am besten kann: den Dingen ihren
Lauf lassen.
Ursula von der Leyen durfte unter ihr die Elternzeit samt Männermonaten
vorantreiben, jetzt streitet ebenjene mit Kristina Schröder über
Frauenquoten in Aufsichtsräten. Beides empfinden nur noch die letzten
Konservativen, alles alte Männer, als Affront. Schon deren Töchter aber -
und die sind die Zukunft der Partei - begrüßen den längst fälligen Diskurs,
denn sie erleben in ihrer eigenen Realität, wie notwendig er ist. So
ähnlich ist es jetzt beim Mindestlohn.
Merkel scheut sich deshalb nicht, die nächste linke Idee aufzusaugen, weil
die sture Blockade an der eigenen Basis zunehmend auf Unverständnis stößt -
auch in CDU-Ortsverbänden empört man sich längst darüber, dass jeder
jemanden kennt, der von seiner Arbeit nicht leben kann.
## Der Nutzen der schwachen FDP
Es liegt eine Ironie darin, dass Merkel ihrer CDU den Linksrutsch
ausgerechnet in der Koalition mit der FDP zumutet, einem Bündnis, das mit
explizit neoliberalen Ansätzen antrat. Überraschend ist es allerdings
nicht.
Erstens können Regierungen Milieus, die ihnen nahestehen, besser etwas
oktroyieren als denen im gegnerischen Lager - was zuletzt SPD und Grüne mit
den Hartz-Gesetzen durchexerzierten. Zweitens aber war die Idee der FDP,
mit der "Traumkoalition" durchregieren zu können, von vornherein zum
Scheitern verurteilt. Ihre Rezepte hatte schon die Banken- und
Wirtschaftskrise kurz vor Regierungsübernahme widerlegt, der Lauf der
Legislaturperiode, in der die Eurokrise das bestimmende Thema ist, tut ein
Übriges, um neoliberales Gedankengut zu widerlegen.
Deshalb stehen die Freidemokraten Merkels Wilderei in sozialdemokratischen
und grünen Gefilden nicht im Wege. Ganz im Gegenteil, ihre Schwäche schafft
erst den Raum für Merkels atemberaubende Schwenks. Nun aber die Bilanz der
Kanzlerin als progressiv zu loben wäre naiv. Merkel ist keine Visionärin,
die ihre Partei vorantreibt.
Merkels technisch-pragmatischer Stil mündet dann in Handlung, wenn die
Umstände es erzwingen. Dies lässt sich gerade in Europa beobachten. Denn
Merkel tastet sich zögerlich voran, sie macht in der Krise nur das Nötigste
- und auch dies erst dann, wenn es fast zu spät ist. Ob es nun die Größe
oder der Zeitpunkt der Hilfspakete, der Rettungsschirmhebel oder die
parlamentarische Beteiligung war, die Beständigkeit von Merkels
Europapolitik ist die zeitverzögerte Korrektur.
Und auch ihre innenpolitischen Kurswenden sind nur scheinbar
emanzipatorisch. Das zeigte sich etwa beim Atomausstieg. Noch vor einem
Jahr verkaufte sie der Republik die Atomenergie als Nonplusultra, um den
Wirtschaftsflügel zu befrieden. Erst als dieser Position nach Fukushima
jeder gesellschaftliche Rückhalt fehlte, schwenkte sie um.
## Nachholende Anpassung
Der Preis für Merkels Beweglichkeit ist, dass ihrer Partei immer unklarer
wird, ob sie eine politische Linie verfolgt. Doch die beliebte Frage nach
ihrem Wertegerüst geht fehl: Merkels Politikstil ist im besten Sinne
postmodern; eine objektive Wahrheit, aus der zwingende Forderungen
abzuleiten wären, existiert in diesem Rahmen nicht.
Stattdessen dominieren zwei Prinzipien: das des Machterhalts und das der
Pragmatik. Die Kanzlerin modernisiert ihre CDU nicht aus einer inneren
Überzeugung heraus. Und: Schon der Begriff "Modernisierung" ist bei ihr
falsch gewählt, impliziert er doch Avantgarde, Ideen über das Jetzt hinaus.
Die hat sie nicht, eher betreibt sie nachholende Anpassung.
Was dabei herauskommt, ist aus linker Sicht gar nicht mal schlecht -
allerdings nur, wenn man den verstaubten Bezugsrahmen CDU zugrunde legt.
Denn was für eine ehemals konservative Partei emanzipativ ist, ist es für
die Gesellschaft noch lange nicht. Deshalb ist auch so schwer
nachzuvollziehen, warum Merkels Manöver beim linksalternativen Publikum so
gut verfangen.
Gewerkschaften für muffig und spießig halten, aber Beifall klatschen, weil
eine Christdemokratin den Mindestlohn schlecht kopiert? Als dürftige
Schadensbegrenzung nach Zerstörungen, die konservative Politik in der
Gesellschaft angerichtet hat? Das ist billig. Und belegt aber auch, wie
sehr manchen ehemals Linken der Glaube an echte Veränderung
abhandengekommen ist.
6 Nov 2011
## AUTOREN
Ulrich Schulte
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
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alle Seiten.
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