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# taz.de -- Obdachlosigkeit in Deutschland: Nur Nothilfe reicht nicht
> Erstmals nach vielen Jahren steigt die Zahl der Wohnungslosen wieder
> stark an. Verbände fordern eine saubere Statistik, Vorbeugung und
> sozialen Wohnungsbau.
Bild: Auf Hilfe angewiesen: Obdachlose in Frankfurt/Main.
BERLIN taz | Seit Mitte der 1990er Jahre sank die Zahl der Obdach- und
Wohnungslosen kontinuierlich. Nun ist sie erstmals wieder um knapp 10
Prozent gestiegen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) präsentierte am
Mittwoch in Leipzig ihre aktuelle Schätzung: Vor zwei Jahren ging die
Arbeitsgemeinschaft noch von 227.000 Wohnungslosen bundesweit aus.
Mittlerweile sollen es 248.000 Menschen sein, die über keinen
mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen.
Zu den Wohnungslosen zählen Menschen, die in Heimen oder Frauenhäusern
unterkommen oder die von den Kommunen ohne Mietvertrag in Wohnräume
eingewiesen werden. Dazu gehören aber auch die 22.000 klassischen
Obdachlosen, die auf der Straße oder sporadisch in Notunterkünften leben.
Für viele dieser Betroffenen kam der Absturz plötzlich - durch
Schicksalsschläge wie eine Trennung, Gewalterfahrungen, Jobverlust oder
hohe Mietpreise. Sich dann selbst aus dem Loch zu ziehen ist für einige
unmöglich. Am Rande der Gesellschaft angekommen, fallen Wohnungslose auch
aus der Statistik heraus.
Für Rolf Jordan von der BAGW, in der die meisten freien Träger der
Wohnungslosenhilfe sowie etliche Kommunen vertreten sind, ist das ein
Skandal: "In Deutschland wird jede Kleinigkeit gezählt, aber nicht die
Wohnungslosen." Er verlangt offizielle, wissenschaftlich gesicherte Zahlen,
damit die Debatte nicht mehr auf die Schätzungen der BAGW angewiesen ist.
Doch Zahlen können eben auch schockieren - ein möglicher Grund für die
fehlende Statistik?
## Schwierig, Obdachlose zu zählen?
Nein, sagt die Sprecherin des Bundessozialministeriums: "Aufwand und Kosten
einer bundesweiten Erhebung stehen in keinem angemessenen Verhältnis zum
Erkenntnisgewinn." Für die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit seien die
Kommunen zuständig, "sie haben kein wirkliches Interesse an einer
bundesweiten Statistik". Dem widerspricht Uwe Zimmermann, Sprecher des
Deutschen Städte- und Gemeindebundes: "Diese Aussage ist falsch. Wir würden
statistisches Material begrüßen, auch wenn wir wissen, dass es schwierig
ist, Obdachlose zu zählen."
Schließlich zeigt jeder Gang durch eine deutsche Innenstadt, dass es sie
gibt: Sie liegen in Hauseinfahrten oder schlafen in Parks. Sie nennen das
"Platte machen". In den beiden vergangenen Wintern sind über 20 Obdachlose
erfroren. Auch jetzt befürchten Jordan und seine Kollegen wieder Kältetote.
"Menschen, die Tag und Nacht auf der Straße leben, sind unterversorgt",
sagt der Direktor der Caritas Frankfurt/Main, Hartmut Fritz. Die Kommunen
sind zwar dazu verpflichtet, eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Sie
zu nutzen, kann aber niemand gezwungen werden.
Die Städte gehen damit sehr unterschiedlich um. In Frankfurt/Main gibt es
etwa so viele Unterkünfte wie Wohnungslose. In Berlin fehlen laut der
"Kältehilfe" akut noch rund 70 Notschlafplätze. "Wir fordern - trotz der
teilweise guten Ansätze - mehr adäquate Unterkünfte" sagt Jordans Kollegin
Werena Rosenke. Manche Obdachlose lehnen Hilfsangebote ab, was Jordan so
erklärt: "Viele haben schlechte Erfahrungen gemacht oder sind mittlerweile
psychisch sehr krank." Für sie gibt es mobile Hilfen - Sozialarbeiter und
Ärzte, die versuchen, Kontakt aufzunehmen und Decken für kalte Nächte
bereitzustellen.
## "Die Not wird wachsen"
Neben der Bekämpfung akuter Not fordern die Helfer jedoch von der Politik
auch mehr Prävention. Die Kommunen müssten "bereits vor dem Wohnungsverlust
ansetzen. Das ist viel humaner und am Ende auch günstiger als die
Nothilfe", erklärt Rosenke. Bei Räumungsklagen etwa müsste der Hinweis auf
die Betroffenen von den Gerichten schnell genug an eine (zu gründende)
Fachabteilung gegen Obdachlosigkeit vermittelt werden.
Einen weitere Schwachpunkt im System erkennt Rosenke in der
Sozialgesetzgebung: "Zu viele Menschen kommen mit dem Regelsatz nicht aus.
Das Ziel muss sein, dass die Sozialhilfe die Grundversorgung sichert und
Menschen nicht auf Almosen angewiesen sind."
Außerdem fordert Rosenke mehr sozialen Wohnungsbau. Denn schon jetzt
prognostiziert die BAGW rund 30.000 weitere Wohnungslose bis 2015. Auch
Fritz befürchtet: "Die Not wird wachsen genauso wie die Zahl der Obdach-
und Wohnungslosen. Da muss dann auch mehr getan werden."
10 Nov 2011
## AUTOREN
Timo Reuter
## TAGS
Schwerpunkt Armut
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