# taz.de -- Obdachlose als Schauspieler: Das Sozialtheater | |
> Auch wenn die Beteiligten der Hamburger Truppe "Obdach-Fertig-Los" nicht | |
> mehr auf der Straße leben: Vergessen haben sie jene Zeit nicht, und ihre | |
> Stücke handeln noch immer davon. | |
Bild: Es geht weniger um das Stück als Kunstwerk, sagt die Regisseurin, als um… | |
HAMBURG taz | Gleich geht es los. Ein paar Minuten noch, Zeit für einen | |
Kaffee und ein Stück Kuchen oder eine Portion Kartoffelsalat mit Würstchen | |
oder alles zusammen. "Die Pastorin hat heute etwas länger über die Zehn | |
Gebote gesprochen", sagt Gerhard Arland und geht dabei auf und ab. | |
Den Gemeindesaal der evangelisch-reformierten Kirche in Altona-Altstadt ist | |
an diesem Sonntagmittag zu einem Theatersaal geworden: Gelbe, blickdichte | |
Gardinen halten das Tageslicht draußen. Schwarz gestrichene Heizkörper | |
reihen sich entlang der Fensterfront. Der Fußboden zeigt Stäbchenparkett - | |
aus Mauersteinen. | |
An der Stirnseite zwei grüne Holzbänke und ein Tisch, um den sich in | |
wechselnden Formationen die Schauspieler gruppieren. "Nestkälte" heißt das | |
Stück, das die Gruppe "Obdach-Fertig-Los" nun nach dem Gottesdienst geben | |
wird. Aber erst werden weitere Stühle herbeigeschafft, die nun ins | |
Bühnenbild ragen. | |
Gerhard Arland ist so etwas wie der Kopf und Manager der Truppe, und das | |
Stück hat er auch geschrieben. Bei ihm fing alles damit an, dass er in der | |
Nähe seiner Arbeit an einer Ampel einen kleinen Zettel fand: Darauf wurde | |
eingeladen zum Besuch des "Café Begegnung" in einem Männerwohnheim der | |
Hamburger Heilsarmee. | |
Arland wurde neugierig, ging hin: "Ich war der Einzige von außen, der | |
gekommen war. Alles andere waren Bewohner." Ihn faszinierte zunächst das | |
Outfit der Heilsarmisten: "Da war so eine schmucke Kapitänin in einer | |
feschen Uniform", erinnert er sich, "ich war ja noch jünger damals." Näher | |
kennenlernte er einen der Bewohner: Der schreibt Gedichte und hatte in | |
Berlin bereits bei einem Obdachlosentheater mitgewirkt. | |
Auch Arland hat Theatererfahrung. "Ich war mal Quartalssäufer", sagt er | |
beiläufig. "Als ich mal klar war, als ich meine trockene Phase hatte, sagte | |
meine Frau, die damals noch nicht meine Frau war: ,Gerhard, hör auf mit der | |
Sauferei - du musst was machen.'" Und Arland machte was: Er ging zum | |
Norderstedter Amateurtheater und spielte. Im September 1994 gründeten die | |
beiden Männer das erste Hamburger Obdachlosentheater, man probte im | |
Männerwohnheim. | |
Auf der Bühne wechseln derweilen die Szenen: in der Suppenküche, die gleich | |
schließt; auf der Parkbank, bevor es Nacht wird. Es gibt die | |
drogensüchtige, junge Frau, die schwanger wird, das Kind behalten will und | |
also einen Entzug machen muss - nur wie? Es gibt Johnny, den Obdachlosen, | |
der Hilfsangebote mit einem stoischen "im Moment nich" erwidert. Die | |
Obdachlose, der in der Suppenküche nichts gut genug ist. Und, nicht | |
zuletzt, den Sozialarbeiter, der bestens gelaunt vorbeischlappt, allen | |
einen Kaffee spendiert, aber einen Kassenbon mit ausgewiesener | |
Mehrwertsteuer braucht, damit er die Ausgabe später korrekt verbuchen kann. | |
Es ist Volkstheater im besten Sinne: ohne Abstraktion, ohne künstlerische | |
Überhöhung. | |
Sieht man, wie Volker Boeken und Antje Reinhardt das obdachlose Paar Holger | |
und Marion geben, die sich zum Hochzeitstag für eine Nacht ein Hotelzimmer | |
nebst Dusche gönnen - man könnte glauben, die beiden seien wirklich ein | |
Ehepaar. "Das liegt an der guten Regie", sagt Boeken: "Und daran, dass wir | |
uns zwischenmenschlich einfach gut verstehen." | |
Regisseurin Maja Feil kam über einen kleinen Umweg hinzu: Sie las im | |
örtlichen Obdachlosenmagazin Hinz&Kunzt eine Anzeige, "dass das | |
Obdachlosentheater Schauspieler sucht", erzählt sie. Ihr Studium der | |
Kulturwissenschaften hatte sie abgeschlossen und dachte sich, "es kann | |
nicht schaden, selbst zu spielen." | |
Also meldete sie sich. Zwei Wochen später schmiss der Regisseur hin - und | |
Feil übernahm. "Er war auch mehr Sozialarbeiter als Regisseur", sagt sie. | |
Ein Widerspruch? "Letztendlich vermischt sich das immer", sagt sie lachend | |
- "selbst im professionellen Theater." | |
Ihre Ausbildung als Regisseurin hat Feil mittlerweile abgeschlossen. Was | |
ihr am Obdachlosentheater gefällt? "Die Menschen sind das Besondere. Es | |
geht weniger um das Theater an sich oder das Stück als Kunstwerk. Sondern | |
darum, etwas miteinander zu erarbeiten, was jeden persönlich bereichert." | |
Eine Sache plagt die Truppe, in der jüngsten Zeit immer wieder Thema: | |
Keiner der Beteiligten ist mehr obdach- oder wohnungslos. "Vielleicht sind | |
wir heute eher so etwas wie ein Sozialtheater", sagt Regisseurin Feil. Egal | |
- neue Mitspieler sind immer willkommen. "Ich hätte fast gesagt, uns fehlt | |
der Nachwuchs", sagt Arland. Er weiß die Ruhe und Routine einer gut | |
eingespielten Theatercombo zu schätzen. | |
Auch wenn es nicht an Problemen mangelt - einige der Mitspieler müssen mit | |
364 Euro Hartz IV oder Grundrente auskommen - sagt er: "Die wilden Zeiten | |
sind zum Glück vorbei." Damals habe schon mal ein Akteur am Tag der | |
Premiere angerufen, "Ich spiel nicht mit!" in den Hörer gebrüllt und sei | |
nicht mehr ans Telefon gegangen. Für Boeken ist die Sache klar: "Ich bin | |
vor 12 Jahren aus der Obdachlosigkeit rausgegangen, aber das ist | |
unerheblich. Was ich erlebt habe, das habe ich ja nicht vergessen. Die | |
Jahre, die ich auf der Straße gelebt habe, sind vorbei - aber sie sind ein | |
Teil von mir." | |
Nach der Vorstellung, großes Hallo draußen auf der Terrasse zum | |
Kirchgarten: Thomas Dominik, einer der Ehemaligen, ist unter den Besuchern. | |
Mit Arland hat er einst die Stücke "Straßenköter" und "Abwärts zu den | |
Sternen" verfasst. Dominik lobt das neue Stück: Wirklich gut hinbekommen | |
hätten sie das. Prompt wird er gefragt, ob er nicht wieder einsteigen | |
wolle. "Mensch, ich bin doch seit Jahren raus aus der Obdachlosenszene", | |
sagt er. | |
Ein Gespräch entspinnt sich, wie es damals war und wie es heute ist. | |
Schwieriger sei es geworden, das Leben auf der Straße - allein schon, wie | |
oft man vertrieben werde. "Früher hat man einen alten Berber an die Hand | |
bekommen, der einem erst mal erzählt hat, wie die Dinge so laufen", sagt | |
Boeken. "Ich meine nicht damit, das es früher besser war." Aber es habe | |
klare Spielregeln gegeben. | |
Dominik raucht zu Ende, will langsam wieder gehen. Er könnte ja mal | |
vorbeikommen. Immer noch der alte Treffpunkt, wo sie Dienstagabend proben? | |
Wo sie sich zugleich erzählen, was gut gelaufen ist in der Woche und was | |
schief gegangen? Also, demnächst. Wahrscheinlich. Er weiß ja, wo er sie | |
findet. | |
9 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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