# taz.de -- Die CDU, eine Konsensmaschine: Laumann rockt den Parteitag | |
> Der Chef des Arbeitnehmerflügels, Karl-Josef Laumann, reißt in Leipzig | |
> 1.000 Delegierte von den Stühlen – und der Linksruck ist durch. Merkel | |
> freut sich über den Kompromiss. | |
Bild: Ein Christdemokrat, wie es nicht mehr viele gibt: Karl-Josef Laumann. | |
LEIPZIG taz | In dieser Sekunde droht die sorgfältig vorbereitete | |
Parteitags-Choreografie zu kippen. Und Karl-Josef Laumann ist schuld daran. | |
Der Wortführer des Arbeitnehmerflügels hat seiner Partei gerade den | |
Mindestlohn beigebogen. Er ist ein Christdemokrat, wie es sie nicht mehr | |
viele gibt. | |
Geboren auf einem Bauernhof im Münsterland, gelernter Maschinenschlosser, | |
breites Gesicht, das, wenn er in Fahrt ist wie jetzt, sehr rot anläuft. | |
Dazu eine massige Gestalt und eine dröhnende Stimme, die auch in einer | |
Maschinenhalle oder auf dem Acker funktioniert. | |
"Wer arbeitet, muss doch auf einen grünen Zweig kommen", brüllt er. Und: | |
"Ich will eine Gesetzgebung noch in dieser Legislaturperiode, die Löhne | |
verhindert, für die man sich schämen muss." Die Delegierten reißt es von | |
ihren Stühlen, Applaus tost durch die Leipziger Messehalle, Standing | |
Ovations. Rechts hinter Laumann lacht die Kanzlerin auf dem Podium. | |
## Soweit alles nach Plan für Merkel | |
So weit läuft alles nach Plan für Angela Merkel. Und ausgerechnet jetzt, | |
nachdem Laumann den Saal gerockt hatte, hat die Versammlungsleiterin eine | |
seltsame Idee. | |
Was denn der Saal davon halte, sagt sie ins Mikrophon, nach der | |
"hervorragenden Rede von Karl-Josef" sofort abzustimmen. Verwirrung auf dem | |
Podium, Grummeln bei den rund 1.000 Delegierten. Wie bitte? Die Debatte, | |
auf die alle gewartet haben, sofort beenden? Zwei Dutzend Rednern, die auf | |
der Liste stehen, das Wort abschneiden? | |
Merkel reagiert sofort. Sie dreht den Kopf, gibt eine knappe Anweisung. Es | |
wird weiterdiskutiert. | |
Wär ja noch schöner. Die Form muss gewahrt bleiben, auch wenn das Ergebnis | |
der Abstimmung längst feststeht. Der CDU-Bundesparteitag in den Leipziger | |
Messehallen, der am Dienstag zu Ende ging, wird als derjenige in Erinnerung | |
bleiben, der den Linksrutsch der Christdemokraten beschließt. Und die von | |
Merkel verordnete Modernisierung mit überwältigender Mehrheit unterstützt. | |
Die Partei stellt sich hinter ihre Europalinie, sie beschließt einen | |
Mindestlohn, und sie segnet offiziell den Abschied vom dreigliedrigen | |
Schulsystem ab. | |
Mehr geht nicht. Klar wie nie und fast beängstigend kritiklos hat sich die | |
Partei hinter Merkel gestellt. Vergessen die monatelangen Debatten über | |
Konservatismus, über das verloren gegangene Wertegerüst der CDU. Leipzig | |
dokumentiert: Die CDU ist Merkel, Merkel ist die CDU. Und sie hat die | |
Partei deshalb so fest im Griff, weil sie den Parteitag wie eine riesige | |
Konsensmaschine benutzt. | |
## Eingemeindete Kritiker | |
Volker Bouffier aus Hessen, der sich gerne als letzter Konservativer | |
geriert, säuselt am Rednerpult, wie wichtig doch Geschlossenheit sei. | |
Michael Fuchs, Wortführer des Wirtschaftsflügels, verkauft den | |
Mindestlohn-Beschluss als Erfolg, weil immerhin Gewerkschaften und | |
Arbeitgeber den Lohn festlegen würden, nicht die Politik. Und Josef | |
Schlarmann, Chef der Mittelstandsvereinigung, kritisiert zwar die | |
Mindestlohndebatte als "strategischen Fehler". Hütet sich aber vor Kritik | |
an Merkel. Die exponierten Kritiker sind eingemeindet und schmücken die | |
Merkel-Show aus, statt zu stören. | |
Nur einer hat sich getraut. Eugen Abler, 59, Ortsverbandschef der CDU in | |
Bodnegg, ist der einzige, der die Kanzlerin direkt attackiert. Er hat sich | |
gut vorbereitet, das silberne Haar sorgsam gescheitelt, zwei Sticker ans | |
Anzugsrevers geheftet, die Deutschlandfahne rechts, das Kolping-Werk links, | |
und sich die wichtigsten Sätze aufgeschrieben. | |
Die CDU laufe unter Merkel "dem Flugsand der Wechselwähler" hinterher, sagt | |
Abler ruhig auf dem Podium, als er in der Aussprache nach Merkels Rede an | |
der Reihe ist. Der Modernisierungskurs, den sie der Partei verordnete habe, | |
verunsichere die Stammwähler. Und er schlussfolgert Naheliegendes: Die | |
Wähler würden im Zweifel lieber das Original wählen. Er bekommt einen | |
spärlichen Höflichkeitsapplaus. | |
## Graswurzelrevolte | |
Später, in der klinisch anmutenden Presselounge, begründet er seine Sicht | |
ausführlich. Er redet von der Heimatlosigkeit der Konservativen, davon, | |
dass ihm bei Merkel nicht klar sei, welche Ziele sie verfolge und warum. Es | |
sagt viel über die Lage der Parteikonservativen, dass nur noch | |
Ortsverbandschefs mutig genug sind, in dem wichtigsten demokratischen | |
Gremium der Partei die Fahne hochzuhalten. Und auch er hat für den | |
Mindestlohn und für den Europaantrag gestimmt. | |
Wie Merkels Konsensmaschine funktioniert, führte sie beim Mindestlohn | |
mustergültig vor: Laumann, seit sechs Jahren Chef der Christlich | |
Demokratischen Arbeitnehmerschaft, hatte bereits im Sommer eine | |
Graswurzelrevolte für den Mindestlohn gestartet. Die CDA-Leute brachten das | |
Lohnthema in den Ortsverbänden auf, sie holten sich Kreisverband für | |
Kreisverband. Auf den Regionalkonferenzen, die Merkel vor dem Parteitag | |
veranstaltete, bekam die Initiative riesigen Zuspruch. | |
## Kampfabstimmung vermeiden | |
Erstaunlich sei das gewesen, erinnert sich etwa Annegret Kramp-Karrenbauer, | |
Saarlands Ministerpräsidentin. Sie saß auf der Konferenz in | |
Baden-Württemberg neben Merkel. Jede zweite Frage, erzählt sie, sei zum | |
Mindestlohn gekommen. | |
Die Kanzlerin kam an dem Thema nicht mehr vorbei. Vor dem Parteitag bat sie | |
die beiden Kontrahenten, Fuchs und Laumann, einen Kompromiss vorzubereiten. | |
Und drängte im Präsidium auf eine Einigung. Es gab sie am Sonntag, quasi in | |
letzter Minute, die Einigung, mit der alle leben konnten. "Die Gefechtslage | |
war klar", berichtet ein Vorstandsmitglied. "Keiner wollte das Ding in eine | |
Kampfabstimmung laufen lassen." | |
Eine Kommission soll jetzt den Mindestlohn beschließen, nur für tariflose | |
Bereiche, Differenzierungen sind möglich. Ein Formelkompromiss, bei dem | |
Fachleute ihre Zweifel haben. Aber der für die Partei eine Revolution | |
bedeutet. Ein Mindestlohn war für Christdemokraten jahrzehntelang die | |
ökonomische Todsünde. | |
Dass diese Revolution ausgerechnet in Leipzig stattfindet, ist eine Ironie | |
der Geschichte. Leipzig 2003, das war der Parteitag, bei dem Merkel der CDU | |
marktgläubige Reformen verordnete. Damals, in der Opposition zu Rot-Grün, | |
huldigten die Delegierten dem Neoliberalismus, sie beschlossen eine | |
Kopfpauschale, Friedrich Merz ließ sich für sein radikales Steuermodell | |
feiern. | |
## Gefeiert wird mit Wodka | |
Ersteres verwirklichte die CDU nur in Ansätzen, von Letzterem redete schon | |
sehr bald keiner mehr. Und jetzt, acht Jahre später, heben die Delegierten | |
mit sozialistischer Mehrheit die Hand, als Laumann den "allgemeinen, | |
verbindlichen Mindestlohn" ausruft, und CDA-Gruppen feiern abends ihren | |
Sieg mit Wodka. | |
Als wäre die Koalition mit der FDP nur ein böser Traum. Ebenso stimmten die | |
Delegierten am nächsten Tag für eine Oberschule neben dem Gymnasium, was | |
den Abschied von der Hauptschule bedeutet. Noch so ein schwarzes Tabu. | |
Merkel schafft es in ihrer Rede, solche Richtungswechsel sogar als | |
Kontinuität auszugeben. Solche Dialektik überrascht bei ihr nicht wirklich, | |
sie bleibt lediglich ihrem unideologischen Politikstil treu. | |
Was aber überrascht, ist die Demut, mit der die Partei die Schwenks | |
hinnimmt. Mag die Abwesenheit von Kritik noch als disziplinierte | |
Diskussionskultur durchgehen, mutet doch spätestens das Rauschhafte, mit | |
dem die Delegierten den Kurswechsel bejahen, seltsam an. Als übe die CDU | |
kollektiv Buße. | |
## "Gegenbewegung" | |
"Dass die Leipziger Beschlüsse 2003 in eine ganz andere Richtung gingen, | |
entbehrt natürlich nicht einer gewissen Pikanterie", sagt | |
Kramp-Karrenbauer. Sie führt im Saarland eine Jamaika-Koalition aus CDU, | |
FDP und Grünen, sie muss jeden Tag Widersprüchlichkeiten ausbalancieren. | |
Allein deshalb ist interessant, mit ihr über den Wandel von Parteien zu | |
sprechen. | |
Auch die Politik erlebt Moden, sagt Kramp-Karrenbauer. "Um 2003 herum war | |
ja der Weg des "Privat vor Staat" das Nonplusultra, nicht nur in der CDU, | |
sondern auch in anderen Parteien. Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise | |
mussten wir erkennen, dass vieles nicht funktioniert hat, entsprechend | |
erleben wir jetzt die Gegenbewegung." | |
Sie wertet die Mindestlohn-Bewegung als Zeichen für die Lebendigkeit ihrer | |
Partei. "Sie zeigt, dass die CDU hier gut funktioniert, das Thema kam von | |
der Basis und dringt bis zur Spitze durch." Und was ist mit den Bouffiers? | |
Mit den Ablers? All denen, die ihrer Partei Beliebigkeit vorwerfen? | |
Kramp-Karrenbauer denkt kurz nach. "Solche Äußerungen drücken das eigene | |
Unbehagen an der sich immer schneller verändernden Welt aus. Wenn letzte | |
Gewissheiten einer Partei, die einem immer Halt gaben, sich ändern, ist | |
Verunsicherung verständlich." Dies sei eben die Aufgabe für alle | |
etablierten Parteien, findet sie: "Auf gesellschaftliche Veränderungen | |
Antworten zu geben, und nicht in bequemer Nostalgie zu verharren." | |
Die CDU aus der Nostalgie gerissen und in die Moderne geholt, das Bild | |
würde Merkel gefallen. Von der Kanzlerin war noch ein persönlicher Bezug zu | |
Leipzig zu erfahren. Hier, erzählt sie auf dem Presseempfang, habe sie als | |
Studentin in einer Werkstatt lernen sollen, mit dem Lötkolben umzugehen - | |
wegen ihres bescheidenen Erfolgs sei sie dann lieber auf theoretische | |
Physik umgeschwenkt. | |
Löten, sagt der Brockhaus, ist ein Fügverfahren, um verschiedene Werkstoffe | |
zu verbinden. Mit der CDU und der Realität hat Merkel das wieder ganz gut | |
hinbekommen. | |
15 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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