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# taz.de -- Unterwegs nach Gorleben: Es ist wieder Castorzeit
> Während französische Atomkraftgegner die Transportzüge blockieren,
> bereiten deutsche Bürgerinitiativen massive Blockaden vor - ein Streifzug
> durchs Protestgebiet.
Bild: Die Atomüllbehälter rollen wieder. Auch diesmal werden sie auf massiven…
Berlin taz | Dieser Nebel hier, gespenstisch. Dicht und schwer liegt er
über dem Land, weiß, kaum zu durchdringen. Nur die Birkenstämme entlang der
Allee verraten, wo der Weg nach Güstritz, zu Christoph Schäfer verläuft.
Und ab und an leuchtet grell eines dieser gelben Widerstands-X durch die
Nebelwand.
Wenn er in diesen Tagen über seinen Bauernhof schlendert, kann Schäfer, 47,
nordischer Akzent, drahtiger Typ, von diesem Wetter nicht genug bekommen.
"Mehr Nebel, 20 Zentimeter Schnee, viel Frost und richtig Eisregen, das
wünsche ich mir für dieses Wochenende." Es ist wieder Castorzeit. Und je
mieser das Wetter im Wendland ist, desto stärker wähnt sich der
widerständige Biobauer im Vorteil.
Schäfer kennt sich hier aus. Und seine sieben Trecker machen, anders als
die Wannen der Polizei, jedes Wetter und Geröllfeld mit. Hier, in dieser
dünn besiedelten Region in Niedersachsen, zwischen Örtchen wie Güstritz und
Pretzetze, Dumstorf und Prezelle gehört Schäfer zur Hausmacht. Wenn am
Wochenende neuer Atommüll nach Gorleben rollen soll, steht, wie so oft
schon, eine neue Kraftprobe im Wendland an, zwischen seinesgleichen und den
bis zu 19.000 Polizeibeamten aus ganz Deutschland, die zum größten
Protestszenario des Landes an diesem Wochenende wieder erwartet werden.
## Protest nach Fukushima
Elf Transportbehälter, Typ "Castor HAW28M", werden in dieser Woche aus der
französischen Wiederaufbereitungsanlage in La Hague ins oberirdische
Zwischenlager bei Gorleben geschickt. Die letzten rollten vor gut einem
Jahr, im November 2010. Sie wurden begleitet von den massivsten Protesten,
die das Wendland bis dahin je gesehen hatte.
Zehntausende demonstrierten auf Feldern und in Wäldern und blockierten
tagelang die Weiterfahrt des Atommülls. Doch seitdem ist viel geschehen.
Damals ging es um eine Laufzeitverlängerung der Reaktoren in Deutschland.
Dann passierte das Unglück in Fukushima. Heute ist der Atomausstieg
beschlossene Sache. Wozu also noch das Ganze? Muss der Drecksmüll nicht
irgendwohin?
Kerstin Rudek sitzt auf ihrem weiten, roten Sofa. Die bunten Fahnen, Wimpel
und anderen Widerstandssymbole in ihrem Garten schimmern durch den Nebel,
der sich an die Fensterwand des Fachwerkhauses schmiegt. Drinnen knistert
das Kaminfeuer, das Dielenholz des Bodens knarzt. Und es gibt Tee.
Hier hat sich Rudek, 43, mit ihren sechs Kindern eingerichtet. "Eigentlich
fühle ich mich sauwohl", sagt sie. Aber seit sie weiß, dass die
Geburtenrate von Mädchen in der Region signifikant niedriger ist als in
anderen Landesteilen, schläft Rudek, die gern und oft lacht, nicht mehr
ganz so ruhig. Vor einigen Wochen, sagt sie, habe sie zum ersten Mal
ernsthaft erwogen, die Gegend zu verlassen.
Rudek ist Sprecherin der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, und das seit
Jahren schon. Sie gehört zu den mächtigeren Menschen in der
Antiatombewegung. Was sie und einige andere sagen, findet auch im Berliner
Umweltministerium Gehör.
Denn während große Teile der kernkraftkritischen Öffentlichkeit in Sachen
Protest bereits wieder auf den Pausenmodus umgestellt haben, gibt es im
Wendland noch einen sehr wuchtigen, heiß umstrittenen Fakt: Ganz in der
Nähe des Örtchens Gorleben steht eine oberirdische Wellblechhalle, die von
außen wie ein gigantisches Matratzenlager wirkt. 95 Castorbehälter und fünf
weitere Atommüllbehälter lagern derzeit darin. 11 weitere sollen am
Wochenende dazu kommen. Direkt neben der Halle liegt das große, tiefe Loch,
der Salzstock, den sie hier "Schwarzbau" nennen, in dem der Atommüll eines
Tages verschwinden könnte.
Denn noch immer gibt es in Deutschland keine Antwort auf die Frage, wohin
die vielen radioaktiven Abfälle aus Deutschlands Atomanlagen am Ende
gebracht werden sollen, um die nächsten Jahrmillionen zu überdauern, ohne
jemand zu gefährden. Gerade erst, kurz vor dem Castortransport, hat
Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) Rudek und ihren Wendlandnachbarn
ein Zeichen geben wollen. Er sprach von einer "weißen Landkarte" der
Endlagersuche, auf der ab sofort ohne Tabus nach dem besten Platz für den
deutschen Atommüll gesucht werden solle.
Röttgen wollte signalisieren: Ab sofort ist Gorleben nicht mehr die einzige
Option, die es immer war. Wieso soll es also am Wochenende wieder zu diesem
altgedienten Protestritual im Wendland kommen, ganz so, als sei seit dem
letzten Jahr überhaupt nichts geschehen? "Über Röttgens weiße Landkarte
lachen sich hier alle nur kaputt", sagt Rudek. "Wer soll denn bitte daran
glauben, dass ernsthaft nach Alternativen gesucht wird, während gerade der
nächste Atommüll nach Gorleben rollt und hier weitergebuddelt wird?"
Verarscht, veralbert, verhohnepipelt, so fühlen sie sich hier. "Wenn die
Bundesregierung wirklich einen Schlussstrich ziehen will, dann muss
Gorleben als möglicher Endlagerstandort von der weißen Landkarte
verschwinden." Zu belastet sei die Lügengeschichte des Standorts, zu sehr
fühle sich die Bevölkerung verschaukelt, sagt Rudek.
## Bevölkerung verschaukelt
Wie sehr sie sich wirklich verschaukelt fühlt, das wird am Wochenende
wieder zu bestaunen sein. Dutzende Initiative, Gruppen, Verbände und
Parteien rufen ab heute zu Protesten gegen ein Endlager Gorleben auf. Dass
es so viele wie im Rekordjahr 2010 werden, ist wohl ausgeschlossen. Aber
viele tausend Atomkraftgegner werden am Samstag sicher die Feldwege im
verschlafenen Dannenberg bevölkern. Von kirchlichen Umweltgruppen über
Gewerkschafter bis hin zu klandestinen Kleingruppen aus dem autonomen
Milieu - alle werden dabei sein.
"Militärisch würde man sagen, dass unser Widerstand generalstabsmäßig
organisiert ist", lacht Rudek. Allein 12 Leute machen den harten Kern ihres
Presseteams aus, jeder Einzelne von ihnen verfügt über weitere Gruppen und
Netzwerke, die mitarbeiten. Derzeit beschäftigt die Bürgerinitiative gar
einen Praktikanten, der an den Protesttagen hilft. So ist das hier, wenn
der Castor kommt.
"Ich würde natürlich gerne viel mehr Zeit für all das haben, was mein Leben
sonst ausmacht", sagt die Ergotherapeutin Ella Draht. "Aber im Moment ist
das nicht drin." Wenn die 45-Jährige mit dem schönen, lauten Lachen vor
ihrem Haus an den gelb bemalten Atommülltonnen und Protest-Xen steht,
blickt sie auf die Castortransportstrecke.
Gestern Abend hatten ihre Kinder eine Weihnachtsfeier in der Schule. Sie
konnte nicht hin, auch der Transporte wegen. Denn auch Draht schiebt seit
Wochen Protestüberstunden. Jeden Tag ist sie mit Widerstand beschäftigt.
Sie kümmert sich darum, dass genügend freiwillige Sanitäter da sind, wenn
am Wochenende die Massen ins Wendland strömen. Rund um den
Atommülltransport hat sie sich acht Tage freigenommen. Die Kinder sind aus
dem Haus, damit sie Zeit genug hat für das, was heute jeden hier
beschäftigt.
In den Häusern und Höfen rund um Lüchow, Hitzacker und Dannenberg wird seit
Wochen gebastelt, geplant und gekocht für das große Abwehrwochenende. Es
braucht welche wie Draht, die die Sanis koordiniert, und andere, die die
Klohäuschen bestellen. Es braucht welche, die die internationalen Gäste
betreuen, die aus Japan ins Wendland reisen werden. Und welche, die das
Bühnenprogramm für die Großdemonstration organisieren. Und wieder welche,
die am Samstag die Busse einweisen. Es braucht welche, die kochen, andere,
die spülen.
Und natürlich braucht es Tausende mehr, die demonstrieren und blockieren.
Tausende für den Ausnahmezustand. Von dem kann Christoph Schäfer ein
Liedchen singen. Im vergangenen Jahr waren es gerade Wendlandbauern wie er,
lose zusammengeschlossen in der Bäuerlichen Notgemeinschaft, die den
Polizeieinsatz phasenweise dirigieren konnten. Die Bilder von damals
erinnern an die Anarchie des Wilden Westens: Nicht Sheriffs standen an
allen wichtigen Verkehrsknotenpunkten und regelten den Verkehr, sondern
Farmer mit ihren wuchtigen Maschinen. Wer den Castor blockieren wollte,
erhielt Durchfahrt - die Polizei dagegen nicht.
## Polizisten gegen Bauern
Die Folge: Die Schienenblockaden wurden immer größer, doch den Beamten
mangelte es an Versorgung; tausende Polizisten konnten stundenlang nicht
abgelöst werden, froren, das Essen kam nicht an. Die Wendländer hatten im
Wendland wieder die Macht übernommen. Damit dies in diesem Jahr nicht
wieder passiert, gründete die Polizei eigens eine Einheit mit Dutzenden
Beamten zur Abwehr der Bauern - und zur Versorgung der Kollegen.
Blockadetrecker sollen in den kommenden Tagen leichter beschlagnahmt werden
können.
Schäfer, Feldherr über 240 Hektar Erde, auf denen Kartoffeln, Möhren,
Schnittlauch wachsen, nimmt das gelassen hin. Er wird am Wochenende mit
seinen Traktoren ausrücken, den ein oder anderen Feldweg passieren. Und
dann wird sich schon irgendwas ergeben. "Die Entschlossenheit der
Bevölkerung, die ich beim letzten Transport erlebt habe, war unschlagbar.
Und ich habe nicht das Gefühl, dass sich das gelegt hat", sagt er.
Jetzt hofft Schäfer, dass der Nebel günstig fällt. Denn auch wenn
Atomenergie für viele in der Republik schon kein Thema mehr ist: Die
Endlagerdebatte beginnt im Wendland. Jetzt.
23 Nov 2011
## AUTOREN
Martin Kaul
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