# taz.de -- Inklusion in der Praxis: Was, zum Teufel, ist Inklusion?! | |
> Der Republik muss Schüler mit körperlichen und geistigen | |
> Beeinträchtigungen inkludieren. Wie das geht wissen Heilpädagogen - | |
> werden aber selten gehört. | |
Bild: Wenn beim Schulbau nicht nur an Menschen ohne Rollstuhl gedacht wird, dü… | |
Es beginnt, wie immer bei deutschen Pädagogen, mit einer Definition. | |
Wir sind auf dem Jahreskongress der Heilpädagogen in der Berliner Urania. | |
Ein wahnsinnig gelehrter Professor lässt geschlagene 45 Minuten eine | |
Powerpoint-Seite nach der anderen aufploppen: "Inklusion und/oder | |
Integration - eine babylonische Sprachverwirrung?", heißt sein Vortrag. | |
Doch der Professor beantwortet seine Frage derart komplex, dass ein Teil | |
der 800 Heilpädagogen selig einschlummert - und der andere nun gar nicht | |
mehr weiß: Ist Inklusion jetzt gut oder schlecht? | |
Inklusion, das vorweg, ist die gleichberechtigte und selbstverständliche | |
Teilhabe von behinderten Kindern an der Regelschule. | |
Die Nachfrage nach dem Berliner Kongress ist gigantisch. Normalerweise | |
kommen zu den Jahresversammlungen der Heilpädagogen, die als Assistenten, | |
Unterstützer und Helfer behinderter Menschen arbeiten, 500 bis 600 Leute. | |
Diesmal haben sich 800 angemeldet - denn es geht um Inklusion. Das ist | |
gewissermaßen das Kerngeschäft der Berufsgruppe, die zu 95 Prozent in | |
Werkstätten, bei der Kirche oder den vielen Arbeitgebern beschäftigt ist, | |
die mit Behinderten umgehen. | |
## Schlecht angesehene Experten | |
Nur 5 Prozent sind schon in Schulen - aber jetzt, da Deutschland seine | |
Schule für das gemeinsame Lernen fit machen muss - die UN verlangt das -, | |
erkennen die Heilpädagogen ihre Chance: Die Schulen haben meistens keine | |
Ahnung, wie man zum Beispiel einen Autisten oder ein Down-Kind integrieren | |
kann. Die Heilpädagogen wissen das ganz genau. | |
"Es müssen doch in den Schulen auch Leute arbeiten, die den Blick für | |
besondere Kinder haben", sagt eine Fachschülerin aus Augsburg. Sie ist zu | |
einem Workshop nach Berlin gekommen, der in Wahrheit aber zu einer | |
Vorlesung ausartet. Johannes Horvath hält sie, und es sitzen 130 neugierige | |
Leute vor ihm. Heilpädagogen, die auch die Chance sehen, ihren schlecht | |
bewerteten Ausbildungsstatus zu verbessern. Denn die schulischen | |
Sonderpädagogen werden an der Uni ausgebildet. Die Heilpädagogen hingegen | |
nur an Fachschulen, unakademisch. | |
Das lassen die Schulen die Heilpädagogen oft auch spüren. "Die Schule ist | |
ein Closed shop", berichtet eine Teilnehmerin des Workshops. "Wenn über | |
Inklusion in der Schule geredet wird, dann dringen wir mit unseren | |
Fähigkeiten nie durch." Andererseits haben die Schulen ja große Not. | |
## Eine andere Haltung üben | |
Ein Heilpädagoge erzählt, dass seine Rektorin ein inklusives Konzept in der | |
Schule nicht umsetzen kann - weil sich vier Lehrerinnen weigern, mit | |
Behinderten umzugehen. "Ich wüsste schon, was man mit diesen Kindern in | |
einer freien Einrichtung machen würde", sagt er. Er wird künftig als | |
Sonderpädagoge in der Schule arbeiten. | |
Dabei haben die Heilpädagogen eine enorme Kompetenz vorzuweisen. Das sieht | |
man an dem Workshop über den Ohrenkuss, das ist eine Zeitschrift, in der | |
ausschließlich "47 Chromosomen"-Menschen schreiben. Diese Down-Menschen | |
waren lange verschrien als geistig Behinderte, die nicht schreiben können. | |
In Wahrheit verfassen sie wunderbare Texte, richtige Ohrenküsse, also | |
Sätze, die im Kopf hängen bleiben. | |
Wie man einen Text mit einem 47-Chromosomer schreiben kann, muss man | |
freilich erst lernen, berichtet die Herausgeberin Katja de Braganca. Die | |
Journalisten jedenfalls, die den Ohrenkuss besuchen, lernen dort stets im | |
Crash-Kurs, dass es einer Tugend bedarf: einer anderen Haltung den Menschen | |
gegenüber, die ein Chromosom mehr haben als "Normale". | |
Eins interessiert die Downies kein bisschen: ein Heft über Behinderung zu | |
machen. Sie wollen schreiben, und zwar sie selbst, unredigiert. "Die | |
Texte", sagt de Braganca, "sind immer dann schlecht und unauthentisch, wenn | |
die Eltern die Texte nachbessern wollen. Wir fragen dann immer: ,Haben Sie | |
das Original noch?' Es ist das Besondere, was wir abbilden wollen." | |
30 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
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