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# taz.de -- Theaterstück zu Völkermord in Ruanda: Popsongs und Rassenwahn
> Kann Theater den Völkermord thematisieren? Der Schweizer Theatermacher
> Milo Rau versucht es mit "Hate Radio", das jetzt durch Europa tourt.
Bild: Theaterstück "Hate Radio": Hasspropaganda führte 1994 in Ruanda zu Völ…
KIGALI taz | Nadja Kagamba parkt ihren Wagen am Straßenrand im Stadtzentrum
von Ruandas Hauptstadt Kigali. Sie wundert sich. Gegenüber ist eine
Bushaltestelle, an welcher dutzende Menschen stehen. "Doch warum blicken
sie alle gebannt auf die Glasfassade des Gebäudes?", fragt sie sich. Sie
steigt aus und wird damit fast unfreiwillig zum Teil eines
Kunst-Experiments. Unaufgefordert bekommt sie ein Kofferradio mit
Ohrstöpsel ausgehändigt. Die Frau geht zu ihrem Wagen zurück und klemmt
sich die Stöpsel ins Ohr. Was sie hört, habe ihr einen Schauer über den
Rücken gejagt, erzählt sie später.
Es sind die Stimmen des Völkermordes von 1994. Die Moderatoren machen Witze
über die "Tutsi-Kakerlaken", die sich als Leichen an den Straßensperren
stapeln. Sie saufen, kiffen, grölen. Dann zieht der DJ den Radioregler auf
volle Lautstärke. Der Nirvana-Hit "Rape me" donnert in Kagambas Ohren.
Die Hasspropaganda des staatlichen Radiosenders RTLM stachelte im April
1994 die jungen Hutu-Banden zum Massenmord an über 800.000 Tutsi an. Jetzt
ist diese Hetze zurück, live im Radio und als Kunstprojekt: "Die
Grausamkeit der Kakerlaken kann nur durch ihre vollständige Auslöschung
geheilt werden, die Tötung aller, durch ihre endgültige Vernichtung",
wettert eine Stimme.
Diese Worte hatte damals die Radiomoderatorin Valeri Beremiki ins Mikrofon
gezischt. Sie sitzt bis heute wegen Aufrufs zum Völkermord im
Hochsicherheitstrakt. Ihre Worte werden jetzt im Stück "Hate Radio" von der
ruandischen Schauspielerin Nancy Nkusi wiedergegeben, die selbst 1994 aus
Ruanda fliehen musste.
Die erste Aufführung von "Hate Radio" in Ruanda findet am historischen
Originalschauplatz statt: Das Gebäude, neben welchem Kagamba parkt, ist das
ehemalige Studio des Radiosenders RTLM, der unter dem Namen "Radio Ruanda"
oder "Radio Mille Collines" in die Geschichtsbücher eingegangen ist.
Das Studio im zweiten Stock hinter der Glasfassade ist mit grellem
Neonlicht erleuchtet. Von der Straße aus sieht man die Schauspieler in
ihren Rollen als Radiomoderatoren und DJs vor ihren Mikrofonen sitzen.
Zigarettendunst hängt in der Luft. Optisch passiert nicht viel. Doch was
die Inszenierung in den Köpfen der Zuhörenden auslöst, darum geht es den
Theatermachern aus Deutschland und der Schweiz.
## Geschichte mit Re-Enactments verhandeln
"Hate Radio" ist ein waghalsiges Projekt. Dessen ist sich der Schweizer
Regisseur Milo Rau bewusst. Es passt so gar nicht in die Erinnerungspolitik
Ruandas heute. Präsident Paul Kagames Regime hat harsche Gesetze erlassen,
gegen Rassenideologie vorzugehen. Sich zu einer Ethnie zu bekennen ist
strikt verboten. Die Begriffe Hutu und Tutsi werden heute nur noch
geflüstert. Die Hetze von 1994 über den Äther hinauszuposaunen, bricht alle
Tabus, bewegt sich am Rande des Legalen.
"Wir tun hier etwas, wofür man in Ruanda ins Gefängnis kommen kann", sagt
Jens Dietrich, der das Konzept von "Hate Radio" erarbeitet und dafür über
ein Jahr lang recherchiert hat. Er hat Kontakte zur Staatsanwaltschaft
sowie zur Kommission zur Bekämpfung des Genozids geknüpft, das Projekt
erklärt und Vertrauen aufgebaut. Im Gefängnis haben die Theatermacher die
ehemalige Moderatorin Beremiki gesprochen, um die Szenerie und die Sprache
so original wie möglich zu rekonstruieren.
"Radio Ruanda", das die systematische Entmenschlichung der Tutsi-Minderheit
betrieb, gepaart mit internationalen Popsongs der 90er Jahre - das war kein
düsteres Monster-Radio. Im Gegenteil, der Propagandasender war ein
beliebter Popsender: "Das war Entertainment und gute Laune", bilanziert
Rau. Es war der Geist der Zeit von 1994. Dies wird dem Zuschauer und
Zuhörer nur allzu deutlich.
In der künstlerischen Form der Re-Inszenierung verschmelzen in "Hate Radio"
Reales und Theatralisches - "das führt zur Verwirrung", das weiß Rau. Er
hat ein Internationales Institut für Politischen Mord gegründet, das mit
Re-Enactements Geschichte zu verhandeln sucht, wie die letzten Tage von
Rumäniens Diktator Ceausescu und jetzt das "Hate Radio".
## Gelungene Katharsis
Die Verunsicherung, das sei ein bewusst gewählter Effekt, erläutert der
ruandische Schauspieler Dorcy Rugamba. Er war 24 Jahre alt, als der
Völkermord in seiner Heimat begann. Er floh als Theaterstudent nach
Belgien, spielte dort in zahlreichen Stücken und einem Film zur Geschichte
seiner Heimat. In "Hate Radio" spielt er den Chefideologen des Senders,
Kantano Habimana. Rugamba hatte Angst vor dem Effekt, den "Hate Radio" bei
seinen Landsleuten auslösen würde: "Wir provozieren, um zu provozieren, um
eine Katharsis auszulösen", erklärt er.
Dies ist mit dem Projekt vollkommen gelungen, zumindest in Kigali. Kaum ein
Kunstprojekt zuvor hat je so deutlich gemacht, welche Rolle der Sender in
der psychologischen Vorbereitung des Völkermordes gespielt hatte. Dies wird
auch Nadja Kagamba schlagartig bewusst, der eher zufälligen Zuhörerin.
Als die Radiostimmen verstummen, beben ihre Lippen. Sie hat selbst
Verwandte verloren. "Ich habe alles jahrelang verdrängt, jetzt kommen die
Erinnerungen wieder hoch", nickt sie. Tränen kullern über ihre Wangen. Aber
sie lächelt. "Ich weiß nicht, was dieses Projekt hier soll, aber vielleicht
ist es ja gut, das noch einmal zu hören. Immerhin hat dieses Radio unsere
Leute getötet", sagt sie.
1 Dec 2011
## AUTOREN
Simone Schlindwein
## TAGS
Ruanda
Ruanda
Schwerpunkt Völkermord in Ruanda
Schwerpunkt Völkermord in Ruanda
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