# taz.de -- Interview über Brasiliens WM-Vorbereitung: "Spielwiesen für das G… | |
> UN-Berichterstatterin Raquel Rolnik beklagt, dass in den WM-Städten | |
> zehntausende Familien zwangsumgesiedelt werden. Anstatt einer | |
> partizipativen Planung gebe es so mehr Obdachlose. | |
Bild: Staatliche Übernahme: Seit dem 14. November 2011 kontrollieren Soldaten … | |
taz: Frau Rolnik, an den zwölf Austragungsorten der Fußball-WM 2014 in | |
Brasilien herrscht Goldgräberstimmung, und die Fifa drängt zur Eile. Was | |
bedeutet das für die Stadtplanung? | |
Raquel Rolnik: Theoretisch hätte man so ein Großereignis nutzen können, um | |
lange Geplantes umzusetzen. Leider gibt es das in Brasilien nicht. Hier | |
wird spontan interveniert, alles hängt von der Interessenkonstellation ab, | |
die sich um ein bestimmtes Projekt herum bildet. Aber eigentlich gab es für | |
die WM überhaupt kein Projekt. Auch das erklärt diese langen Verzögerungen. | |
Sie selbst waren jahrelang im Bundesstädteministerium tätig und haben sich | |
für partizipative Stadtplanung eingesetzt. | |
Ja, das war in der ersten Amtszeit von Präsident Lula, von 2003 bis 2006. | |
Doch die Kommunen sind dabei auf Bundesmittel angewiesen. Diese Mittel | |
wurden aber nicht für die Umsetzung dieser Planungen verwendet. Und 2005 | |
hat Lula das Ministerium an eine kleine rechte Partei, die Partido | |
Progessista, übergeben. Das war der Gnadenstoß, seitdem ist das Ministerium | |
nur noch eine Geldverteilungsstelle. Auf Bundesebene findet eine Debatte | |
über Stadtpolitik nicht mehr statt. Die schwierigen Anfänge einer gemeinsam | |
mit den Betroffenen erstellten Stadtplanung sind also durch die Regierung | |
Lula unterminiert worden. | |
Mit welchen Folgen? | |
All das, was jetzt im Zusammenhang mit der WM passiert, hat nichts mehr mit | |
partizipativer Planung zu tun. Alles wird flexibilisiert. In der Regierung | |
hat die Arbeiterpartei ihr historisches Engagement für die urbane Reform | |
aufgegeben, die Vorstellungen von Mitbestimmung, Kontrolle von unten, | |
Regulierung von Besitztiteln. Sie hat sich der politischen Kultur | |
Brasiliens angepasst, der Vetternwirtschaft. Zentral sind die Beziehungen | |
zu großen Wirtschaftsinteressen, die die Wahlkampagnen finanzieren. | |
Was bedeutet das im Hinblick auf die WM und Olympia 2016 in Rio de Janeiro? | |
Man kann das nicht mit der WM in Deutschland oder der Olympischen Spiele in | |
London vergleichen. In Barcelona, Deutschland oder London leben vielleicht | |
fünf Prozent sehr prekär, wenn es auch tendenziell mehr werden. In | |
Südafrika und in Brasilien haben die großen Mehrheiten noch nicht das | |
urbane Mindestniveau erobert. Die WM und Olympia bieten eine Chance zur | |
Intervention, aber die droht verspielt zu werden. | |
Warum? | |
In den WM-Städten sind 150.000 Familien von Zwangsumsiedlungen bedroht. Es | |
werden mehr Obdachlose produziert. Wenn Menschen für Straßen, Flughäfen | |
oder im Umfeld von Stadien umgesiedelt werden, ohne dass sie gleichwertigen | |
Wohnraum bekommen, wachsen die Armenviertel. Wenn du nicht genug Geld für | |
ein neues Haus bekommst, besetzt du Land an der Peripherie. | |
Eine ausweglose Situation? | |
Nein. In Indien, wo 2010 die Commonwealth Games stattfanden, ist die Lage | |
absolut schockierend. In Brasilien war eigentlich schon Schluss mit dem | |
Abräumen von Armenvierteln, das Motto hieß Urbanisierung, Regulierung, dazu | |
gibt es auch einen juristischen Rahmen und konkrete Beispiele. Brasilien | |
steht also vergleichsweise gut da. Aber jetzt habe ich die Befürchtung, | |
dass es rückwärtsgeht. | |
Eine breite Debatte darüber findet in Brasilien aber nicht statt. | |
Es ist unglaublich, aber es geht vor allem um Geschäfte, den Ausbau von | |
Flughäfen, Straßen, Hotels, alles für die Touristen. Darüber informiert man | |
sich in anderen Ländern, aber um Menschenrechtsverletzungen geht es nur am | |
Rande. Dabei müssten wir uns genau ansehen, was in Südafrika passiert ist, | |
und uns so organisieren, dass sich das hier nicht wiederholt. | |
Gibt Brasilien der Fifa genügend Kontra? | |
Es sieht nicht danach aus. Allerdings ist nicht ganz klar, wie stark die | |
Bundesregierung gegensteuert oder auch welche Städte das tun. Neben den | |
nationalen Verträgen gibt es ja auch die mit jedem Austragungsort. Da hängt | |
viel vom jeweiligen Bürgermeister ab. | |
Was sagen Sie zu Ricardo Teixeira, der jetzt bis Ende Januar mit seinem | |
Urlaub auch zeitweise das Amt als Chef des lokalen WM-Organisationskomitees | |
niederlegt? | |
Na, Teixeira ist ein Fall für die Polizei. Das ist skandalös und allseits | |
bekannt. Ich hoffe sehr, dass der DFB und andere nationale Fußballverbände | |
eine ähnliche Position wie die Engländer einnehmen. | |
Nun gibt es in fast allen Städten Widerstandsgruppen, vor allem gegen die | |
Zwangsumsiedlungen. Was können die bewirken? | |
Noch kann dieser Druck von unten zu Kurskorrekturen führen, viele | |
Teilprojekte stehen ja noch am Anfang. Die lokalen Basisgruppen fordern, | |
dass diese WM in puncto Menschenrechte und Umweltschutz neuen Maßstäbe | |
setzt. In São Paulo oder Porto Alegre haben sie im Gespräch mit den | |
örtlichen Behörden Teilerfolge erzielt. Wenn nicht diese Gruppen die | |
Anliegen der Betroffenen auf die Tagesordnung setzen, macht das niemand. | |
Die traditionellen Bewegungen für Wohnraum sind voll und ganz damit | |
beschäftigt, Mittel des großen Bundesprogramms für sozialen Wohnungsbau zu | |
organisieren. Sie waren in den achtziger Jahren viel stärker als heute. | |
Auch die internationalen Mittel für sie, etwa über NGOs, werden immer | |
weniger. | |
Gibt es daneben noch weitere Akteure? | |
In Sachen Transparenz und Bürgerkontrolle entstehen größere Allianzen bis | |
ins Unternehmerlager hinein. In São Paulo wird das Instituto Ethos aktiv, | |
das sind fortschrittliche Unternehmer. | |
Und was können Sie als UNO-Sonderberichterstatterin tun? | |
Ich versuche, den Dialog zwischen den sozialen Bewegungen, den betroffenen | |
Gemeinschaften und den Behörden mit zu organisieren. Sehr wichtig dabei ist | |
die Öffentlichkeitsarbeit, denn die Menschen müssen über ihre Rechte | |
informiert werden. Diese Gruppen müssen Gehör finden, damit die | |
Institutionen zu Kurskorrekturen gezwungen werden. Deshalb stehe ich auch | |
mit den Behörden auf allen Ebenen im Gespräch. Aber ich bin ja nicht nur | |
für Brasilien zuständig. | |
Dilma Rousseff ist ja eine linke Präsidentin, die mit Neoliberalismus wenig | |
am Hut hat. Warum gelingt es der Regierung dennoch nicht, eine sozial und | |
umweltverträgliche WM hinzubekommen? | |
Einerseits wird viel in Sozialprogramme investiert, für arme Familien oder | |
in den sozialen Wohnungsbau; das steht klar im Widerspruch zur neoliberalen | |
Agenda. Andererseits aber scheint bei den Großevents genau diese Agenda | |
umgesetzt zu werden. Die WM-Städte werden in Spielwiesen für das | |
Großkapital verwandelt. Die Neoliberalismus ist tot, aber dominant, sagt | |
der schottische Soziologe Neil Smith: So ist es tatsächlich. Die | |
Präsidentin will durch Wirtschaftswachstum das Elend beseitigen, aber | |
darüber hinaus läuft nichts. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir im | |
Land und im Parlament eine konservative Hegemonie haben. Das brasilianische | |
Modell ist sehr schizophren. | |
27 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
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