| # taz.de -- Die Glaubwürdigkeit des Theaters: Die Geschäfte des Als-ob | |
| > Das Theater und der Kapitalismus haben ein Problem mit der | |
| > Glaubwürdigkeit. Wie das Theater sich zu retten versucht, zeigen Alvis | |
| > Hermanis, Ida Müller und Vegard Vigne. | |
| Bild: Spätestens seit seinem Stück "Väter" gilt Alvis Hermanis als Regie-Gen… | |
| Zunächst glaubt man es nicht. Wähnt sich als Zuschauer von der unsichtbaren | |
| vierten Wand geschützt, die alle Aktion auf der Bühne in den berühmten | |
| Bereich des Als-ob verbannt, während der Zuschauer sich für die Dauer einer | |
| Aufführung freundlicherweise bereiterklärt, dieses Als-ob für bare Münze zu | |
| nehmen. | |
| Im Schutz dieses alten Vertrags zwischen Bühne und Zuschauerraum hält man | |
| nun also auch das hautfarbene Würstchen für eine Penisattrappe, aus dem da | |
| gerade durch eine kräftige Mannsperson mit Richard-Wagner-T-Shirt und | |
| Clownsmaske haarscharf an einem vorbei zielsicher einen Wasserstrahl an die | |
| Hinterwand des Zuschauerraums im Prater der Berliner Volksbühne gesetzt | |
| wird. | |
| War doch nicht zuletzt auf der Bühne in den acht Stunden zuvor in einer | |
| schrillen, hyperkünstlichen Inszenierung von Henrik Ibsens "John Gabriel | |
| Borkman" ge-als-obt worden, was das Zeug hält. Ein falscher Eisbär hatte | |
| falsche Passanten zu dröhnender Musik (Wagner womöglich) in langen, | |
| wohlchoreografierten Schaukämpfen blutig zerfetzt. | |
| Falsche abgerissene Gliedmaßen aus Gummi waren dabei durch die Luft | |
| geflogen und lagen nun auf der Bühne verstreut. In üppigen Mengen war auch | |
| der Körpersaft Blut geflossen und hatte Darsteller und Bühne besudelt. | |
| Theaterblut, versteht sich. | |
| Da konnte doch jetzt nicht wirklich gepinkelt werden, um die Zuschauer in | |
| der letzten Reihe zu vertreiben, wo der Mann mit dem Wagner-Hemd und der | |
| Maske begonnen hatte, die Theaterbänke herauszureißen und in wilder Wucht | |
| auf die Bühne zu werfen. Und während der junge Mann neben mir bereits | |
| erschreckt das Weite sucht, bleibe ich also sitzen. So leicht lässt man | |
| sich schließlich weder von seinem Sitzplatz noch aus seiner Zuschauerrolle | |
| vertreiben. | |
| ## Das Corpus Delicti purzelt aus dem After | |
| Da dreht der Performer und Koregisseur des Abends, Vegard Vigne (denn um | |
| diesen handelt es sich hier), die Schraube noch ein bisschen weiter, zieht | |
| seine Hose herunter und setzt, nicht nur am Geruch deutlich als echt | |
| identifizierbar, sondern auch, weil man das Corpus Delicti sozusagen live | |
| aus dem After purzeln sieht, einen veritablen Haufen auf das geblümte | |
| Sitzkissen direkt neben mir. Da begreife dann auch ich den Ernst der Lage | |
| und weiche willig. | |
| Wenn man sich durch diese kalkulierte Schockaktion zwar von seinem Platz, | |
| nicht aber aus seiner Zuschauerrolle vertreiben lässt, werden spätestens | |
| jetzt die Fragen akut, die dieser provozierende Abend über den | |
| Zusammenbruch bürgerlich-kapitalistischer Werte und Ordnungen stellt. Das | |
| sind auch Fragen über das Theater, das ja wie der Kapitalismus auf der | |
| Figur des Tauschs von einem realen Wert in einen symbolischen gründet. | |
| Womit nun die Frage, was echt ist und was nicht, ins Zentrum rückt. Wie und | |
| ob Dinge überhaupt noch darstellbar sind. | |
| ## Regieduo Müller/Vigne mit comichafter Bildsprache | |
| Ob am Ende nicht auch der Haufen von Herrn Vigne ebenso im Als-ob eine | |
| Verwandlung erfährt wie die berühmten Tränen von Ulrich Matthes (Bitte | |
| verzeihen Sie, Herr Matthes! Aber diese Frage muss hier jetzt leider | |
| gestellt werden …) in Jürgen Goschs berühmter Inszenierung von Anton | |
| Tschechows "Onkel Wanja" 2008 am Berliner Deutschen Theater. Und wie man | |
| eigentlich heute grundsätzlich mit einem Stoff verfährt, dessen | |
| naturalistische Form am Anfang des realistisch-psychologischen | |
| Einfühlungstheaters steht, dem zuerst Bertolt Brecht das Vertrauen | |
| aufgekündigt hat. | |
| Das norwegische Regieduo Ida Müller und Vegard Vigne, mit Ibsen seit ein | |
| paar Jahren beschäftigt, findet für dessen Geschichte vom Bankier John | |
| Gabriel Borkman, der viele Kleinanleger um ihr Vermögen und seine Familie | |
| um ihr Lebensglück gebracht hat, eine so grelle wie abstrakte und beinahe | |
| comic-hafte Bildsprache. | |
| Denn die Demontage der Bühne findet erst statt, nachdem über viele Stunden | |
| lang eine ästhetisch sehr zugespitzte Version des Ibsen-Stücks gespielt | |
| worden ist. Die Bühne glich dabei eher einer Geisterbahn aus Pappmaché, die | |
| Figuren schrillen Zombies, die die wenigen zentralen Sätze, die ihnen | |
| gelassen wurden, eher heulen als sprechen - die Stimmen sind von Mikrofonen | |
| zerdehnt und verfremdet worden. Jedes Geräusch wird durch Lautsprecher | |
| zusätzlich verstärkt und ins Dämonische gerückt. | |
| ## In der radikalen Ästhetik eingesperrt | |
| Und doch geht der schrille Schrei "Ich will leeeeeben!" von Borkmans | |
| wohlstandsverwahrlostem und emotional bedrängtem Sohn Erhart einem in der | |
| furchterregenden Künstlichkeit dieser Welt durch Mark und Bein. Denn diese | |
| Kunstfiguren scheinen in der radikalen Ästhetik der Inszenierung ebenso | |
| eingesperrt wie der Mensch an sich in dieser Gesellschaft. Deshalb wirkt | |
| die Zerstörung des Repräsentationsraums Theater im Verlauf dieses Abends | |
| nur wie die Markierung der Notwendigkeit weitreichenderer Zerstörungen. | |
| Freilich am Ende auch eine wohlfeile. Denn für den Zuschauer endet der | |
| erschöpfende Abend nach acht bis elf Stunden - die Vorstellungslänge | |
| variiert - doch mit dem verdienten Schlaf im eigenen Bett. Und der | |
| Requisiteur kann das so kalkuliert verschmutzte und sorgsam | |
| beiseitegestellte Sitzkissen der Reinigung übergeben, damit es bei der | |
| nächsten Vorstellung wieder sauber ist. | |
| Und doch ist diese "John Gabriel Borkman"-Version nichts weniger als der | |
| Versuch, die Kunstform Theater an sich zu retten - in einer Zeit, in der | |
| man geschlossenen Kunst- und Repräsentationsformen schon längst nicht mehr | |
| traut, weil sich die Welt selbst, die das Theater immer so gern abbilden | |
| will, als geschlossene, weil medial versiegelte Benutzeroberfläche zeigt. | |
| Deswegen betrachten es viele Theatermacher längst als ihre Aufgabe, diese | |
| Benutzeroberflächen zu dekonstruieren oder als solche zumindest kenntlich | |
| werden zu lassen. Was aber eben nicht selten auch eine Entzauberung des | |
| Mediums Theater selbst zur Folge hat. | |
| ## Lernen über den Menschen des 19. Jahrhunderts | |
| An der Berliner Schaubühne hat der lettische Regisseur Alvis Hermanis in | |
| seiner Inszenierung von Alexander Puschkins berühmtem Versepos "Eugen | |
| Onegin", die Ende November Premiere hatte, einen anderen Rettungsversuch | |
| unternommen. Die detailverliebte Bühne zeigt zunächst ein ähnlich | |
| obsessives Verhältnis zur Ausstattung, bildet minutiös und requisitenreich | |
| Interieurs des 19. Jahrhunderts nach, in dem der Stoff angesiedelt ist. | |
| Doch treten die fünf Schauspieler hier zunächst in Alltagskleidung auf, um | |
| sich dann in einem offengelegten Rechercheprozess auf fast dokumentarischem | |
| Weg der Lebens- und Gefühlswelt der Figuren des Romans anzunähern. Erst | |
| über das minutiös vorgeführte Anlegen der Kleidung verwandeln sie sich | |
| denen an - samt allen Korsetts, Perücken und vielschichtiger | |
| Unterbekleidung. | |
| Wir erfahren, dass die Menschen sich aus Misstrauen dem Wasser gegenüber | |
| (das als Überträger gefährlicher Krankheiten wie der Cholera galt) selten | |
| wuschen und daher schlecht rochen. Und wie überhaupt das damalige | |
| Lebensgefühl zustande kam und auch seinen Ausdruck in der Kunst sich | |
| suchte. Deren unterschiedlichste Produktionen aus der Entstehungszeit des | |
| Stoffs werden immer wieder auf die Fläche oberhalb der Bühne projiziert. | |
| Man meint als Zuschauer in dieser fast archäologisch vorgehenden Methode | |
| der Anverwandlung langsam selbst diese Zeit zu spüren und zu schmecken. | |
| Es dauert fast eine Stunde, bis die erste Szene eher markiert als gespielt | |
| wird: als sich Onegin auf einer Gartenbank der Liebe Tatjanas entzieht. | |
| Doch schnell ist das Bild gefroren zum Stillleben einer jungen Frau, die | |
| auf einer Bank von vertrockneten Gartenblumen begraben ist. Nie behauptet | |
| das Theater einen Gedanken, ein Gefühl. Jedes Detail wird als Ergebnis | |
| einer komplizierten Annäherung präsentiert. Und doch stellen sich Momente | |
| großer Wahrhaftigkeit her. | |
| Deshalb ist der Abend in seinem Anspruch der Annäherung von Vigne/Müller an | |
| Ibsen gar nicht unähnlich: Zwei, in ihrer Form ebenso gegensätzliche wie | |
| radikale Versuche, das Theater als Kunstform zu retten, dessen | |
| grundsätzliche Gestalt längst ebenso porös und unwahr wirkt wie die | |
| vorgetäuschten Werte, mit denen der Kapitalismus seine ruinösen | |
| Luftgeschäfte macht. | |
| 27 Dec 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Slevogt | |
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