# taz.de -- Theater-Regisseur Patrick Wengenroth: Maximal grenzüberschreitend | |
> Patrick Wengenroth ist die Fortbildungsmaßnahme des deutschen | |
> Theaterbetriebs. Bei ihm lernt man Nietzsche, "Bild" lesen und singen. | |
Bild: Patrick Wengenroth verausgabt sich in seiner Nietzsche-Revue "Also sprach… | |
Es ist zu kalt für die schwarze Trainingshose von Adidas, die Patrick | |
Wengenroth sonst immer trägt. Sportlich bleibt das Gespräch in einer | |
Kreuzberger Bar aber allemal. Wir rauchen in rascher Folge, vergessen aber | |
auch das Trinken nicht. | |
Wenn man ihn fragt, was seine Theaterabende in Berlin von jenen in | |
Karlsruhe unterscheidet, sagt er: "In Berlin bin ich Spielertrainer, kann | |
mich selbst einwechseln, wenn es mal gerade nicht so läuft." Er lacht. | |
"Doch von Karlsruhe schaffe ich es nicht mehr zurück nach Berlin - ein | |
Hotel wäre zu teuer für die Stadttheater, und unsere Kinder wollen auch | |
betreut sein am andern Morgen." | |
Patrick Wengenroth, einer der letzten wilden Männer mit großen Ideen an | |
deutschen Bühnen, dieser Patrick Wengenroth ist ganz von dieser Welt. Wie | |
ernst es ihm ist mit dem Spielen, merkt man tatsächlich am besten, wenn er | |
selbst auf der Bühne steht. | |
## Von Nietzsche bis Lindenberg | |
Als Spielertrainer sieht man ihn regelmäßig im Studio der Berliner | |
Schaubühne, umgeben von Bundesligisten des deutschen Theaters. Ob er | |
Nietzsche in seiner Revue zu "Also sprach Zarathustra" persönlich spielt - | |
wofür der Schnauzerträger Wengenroth nicht allzu viel Maske braucht -, ob | |
er in seiner "Christiane F."-Show Udo Lindenberg singt oder an mehreren | |
Abenden Friedrich Schiller vorträgt, Wengenroth will seine Figuren | |
besitzen. Ihre Liebe, ihren Hass, ihre Lächerlichkeit und ihre Genialität. | |
"Ja, Parodie ist für mich ein Vorgang des Heranholens, Parodie ist | |
Identifikation. Kabarett kann das längst nicht mehr: auch weil die Realität | |
selbst maximal kabarettistisch geworden ist." | |
"Maximal" sagt er oft an diesem anregenden Abend. Im Theater, wo die | |
Schutzwälle zwischen U und E stabiler sind als in anderen Künsten, wirken | |
Wengenroths Abende wie maximale Grenzüberschreitungen. Denn er macht | |
Hochkultur-Revuen für ein Publikum ohne Dünkel. | |
Sido neben Schiller, die Bild-Zeitung neben Rainald Goetz. Intensiv, ernst, | |
humoristisch, zynisch, aber stets auf Augenhöhe mit dem Objekt. Weil das | |
niemand lange aushält - Wengenroth selbst am wenigsten -, wird | |
zwischendurch viel gesungen. | |
## Der heilige Ernst von Pop | |
Er ist ein guter Sänger geworden in den letzten Jahren. Für "Die letzten | |
Tage der Menschheit" von Karl Kraus am HAU in Berlin hat er die Band Die | |
Türen mit auf die Bühne genommen. Für das nächste HAU-Projekt musiziert er | |
mit Ja, Panik - eine weitere bekannte Indieband. Und in der Schaubühne und | |
anderswo treibt er das Ensemble in eine regelrechte Musicaldramaturgie. | |
"Ironisch singen, das geht aber nicht. Obwohl manche Zuschauer und auch | |
Schauspieler die Songs als Erholungsphase begreifen: Ich muss dann beide | |
zum heiligen Ernst auch von Pop geradezu verdonnern!" | |
Musik, Performance, und doch Identifikation mit den Figuren: Wengenroths | |
Theater bewegt sich jenseits aller Schulen. Zu schräg für die Schaubühne, | |
zu traditionell für das Hebbel am Ufer, nie ist es recht in Berlin. Und | |
deshalb oft gerade richtig. | |
Was bleibt: der Verdacht, dass er im Theaterbetrieb eine Art | |
Fortbildungsmaßnahme darstellt. Weil er Ensembleschauspieler dazu zwingt, | |
über ihre Grundfesten nachzudenken. Was ist Singen innerhalb einer Figur, | |
wie kriecht man in eine Rolle und nennt sich trotzdem beim Klarnamen? | |
Letztlich: Wie liest man Nietzsche, Sloterdijk, und bald wohl Rousseau oder | |
Kant, was zum Teufel hat das mit uns zu tun? | |
## Vehement viel wichtiges Theater | |
Mit Wengenroths Werdegang wären die meisten später Langweiler geworden, | |
Kopisten oder Spielplanerfüller. Der Mittdreißiger Patrick Wengenroth hatte | |
in seiner Heimatstadt Hamburg "vehement" viel wichtiges Theater gesehen. | |
Die letzten großen Tage von Jürgen Flimm am Thalia Theater, die Glanzzeit | |
des Intendanten Frank Baumbauer am Schauspielhaus. Marthaler, Castorf, | |
Texte von Rainald Goetz. | |
Als Tom Stromberg das Schauspielhaus übernahm, buchte Wengenroth DJs zu den | |
Premierenpartys. Wengenroth wurde Assistent, ging an die Wiener Burg, | |
assistierte Dimiter Gottscheff bei seinem Comeback in der Berliner | |
Volksbühne. Wer tritt unbeschadet aus solchen Schatten heraus? | |
## Kostengünstiges Trashformat | |
Dann machte Wengenroth alles anders. Kein Hochdienen mehr, kein langes | |
Warten auf Geld in freien Produktionsstätten. Mit Gleichgesinnten gründete | |
er in Berlin den Theaterdiscounter und erfand ein kostengünstiges | |
Trashformat: Planet Porno. Das war 2003, zehn Folgen gibt es mittlerweile. | |
Sein Neustart in der freien Szene führte ihn bald zurück in die | |
Stadttheater. Und dort mitten in die Stoffe und Autoren, die niemand sonst | |
so recht machen will. | |
Schiller. Nietzsche. Karl Kraus. Peter Sloterdijk. Oder auch Rainald Goetz, | |
dessen "Katarakt" er ab Ende März im HAU in Berlin mit den Bild-Kolumnen | |
von Franz Josef Wagner verschneidet. Es ist eine lange Reihe | |
deutschsprachiger Aufklärer, Moralisten, Heißsporne. "Ja", sagt Wengenroth, | |
"zumindest stellen sie sich alle der Frage nach dem richtigen Tun." | |
## Sekundärtexte sind für Weicheier | |
Wengenroth weiß, wie anmaßend es ist, sich selbst in eine solche Reihe zu | |
stellen. Es geht ihm um die Nähe zu diesen Unzeitgemäßen, die alle mit | |
ihrer Zeit ringen bis zur Selbstzerstörung. "Mich interessiert jeweils die | |
Unerbittlichkeit, oft schlicht auch das Niveau der Texte. Dann ist da immer | |
eine große Hybris, die für die Bühne dankbar ist. Und nicht zuletzt: der | |
Humor!" | |
Weil Patrick Wengenroth selbst Kommentare inszeniert, arbeitet er in seinen | |
Philorevuen immer stärker mit den Originaltexten. "Sekundärtexte sind für | |
Weicheier!", lacht er, und damit auch über seine eigenen frühen Abende. | |
Vielleicht ist der Respekt gestiegen vor den Autoren, die er auch für ihren | |
Mut verehrt: rein in die Unsicherheit, nah an den Abgrund. "Hätte Nietzsche | |
Performer-Qualitäten gehabt, wäre er ein erster Schlingensief geworden. Bei | |
Schlingensief habe ich diese Radikalität erst am Schluss begriffen." | |
Eins aber fällt auf: Bei den Autoren, mit denen sich Wengenroth beschäftig, | |
ist keiner dabei, der nach 1989 relevant geworden ist. Wo sind die | |
Widerspenstigen heute geblieben? Vielleicht tragen sie eine Humorkappe wie | |
Wengenroth. Und gehen vor Mitternacht ins Bett, weil der Babysitter wartet. | |
22 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Tobi Müller | |
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