# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Lob der brotlosen Kunst | |
> Kulturpolitiker und Kunstliebhaber betrachten Kunst gern als etwas | |
> Unverzichtbares und Unersetzliches, ja sogar als "Lebensmittel". Wen | |
> wollen sie damit beeindrucken? | |
Bild: "Kunst ist Lebensmittel" - und machmal sind Lebensmittel Kunst. | |
Glücklich der Bankrotteur - der Gerichtsvollzieher darf ihm nicht alles | |
nehmen. Vom Paragrafen 811 der Zivilprozessordnung, dem | |
"Kahlpfändungsverbot", wird dem Gerichtsvollzieher die Pfändung von | |
Kleidung, Betten, Haus- und Küchengeräten, Gartenlauben, Roben, | |
Dienstmarken, Kleintieren, Werkzeugen aller Art bis hin zu Vieh und Dünger | |
untersagt, außerdem die von Bibeln und Schulbüchern, Prothesen, Brillen, | |
von allen "zur unmittelbaren Verwendung für die Bestattung bestimmten | |
Gegenständen" und auch von sämtlichen für "vier Wochen erforderlichen | |
Nahrungs-, Feuerungs- und Beleuchtungsmitteln", damit die Gepfändeten nicht | |
auf der Stelle verhungern, erfrieren und im Dunkeln sitzen müssen. | |
Auf dieses Kahlpfändungsverbot scheinen sich verschiedene von der | |
Schuldenbremse bedrohte Kulturinstitute zu berufen, wenn sie behaupten, | |
Kunst sei ein Lebensmittel. "Kunst ist ein Lebensmittel", sagen | |
Kulturpolitiker von CDU, SPD, Grünen, Linken. "Kunst ist unser Leben", | |
sagen ungezählte Theatergruppen und Kunstprojekte. | |
## Kunst & Kleidung | |
Wenn ihnen der Gerichtsvollzieher zu nahe kommt, können sie ihm | |
entgegenschleudern: "Nimm mit, was du willst, aber nicht unsere Kunst, denn | |
sie ist unsere Kleidung, unser Bett und unsere Gartenlaube, unsere Robe, | |
unsere Dienstmarke und unser Kleintier, ist unser Werkzeug, Vieh und | |
Dünger, ist unsere Bibel, unser Schulbuch und unsere Prothese, ist die | |
Brille, durch die wir schauen, wir nehmen sie mit ins Grab, und wir wollen | |
uns von ihr nähren, an ihr wärmen und uns in ihrem Lichte sonnen." | |
Nachdem der Gerichtsvollzieher diese feurige Rede angehört hat, wird er | |
hoffentlich nach Hause trotten und sich Peter Steins Inszenierung der | |
"Orestie" in den DVD-Player schieben. Schuld an der Misere ist ja nicht er. | |
Länder, Kommunen oder Sponsoren haben die Geldzufuhr gestoppt; und danach | |
wird's still auf der Bühne und dunkel im Museum, dann gibt es keine | |
Lesungen mehr, und die Arie entfällt. | |
Das ist dann das Aus für alle mit Kunst und Kultur befassten Gewerke, von | |
den Künstlern selbst bis hinab zum Hausmeister, vom Intendanten bis hinauf | |
zum Beleuchter. All ihnen fehlt es dann ganz konkret an Lebensmitteln, denn | |
sie haben ja für die Kunst gearbeitet, und nicht unbedingt aus reiner | |
Begeisterung. Der Fluxuskünstler Emmett Williams fasste es in die | |
unsterblichen Worte: "Ich bin Künstler und nicht Kunstliebhaber." | |
## Kunst & Alltag | |
Aber diese gelassene Professionalität ist mit "Kunst als Lebensmittel" | |
gerade nicht gemeint. Nicht dass die Kunst dieser oder jenem als Broterwerb | |
diene, sondern dass sie unser tägliches Brot sei, will die Formel besagen. | |
Es wäre allerdings bloß albern, wenn einer, dessen Kühlschrank sich | |
bedenklich leert, tatsächlich an seiner Goethe-Ausgabe knabberte. Verfeuern | |
könnte er sie immerhin. Ich kannte einmal jemanden, der kein Geld für | |
Briketts hatte und sich mit Punkmusik einheizte. Von Marcel Duchamp ist der | |
Vorschlag überliefert, einen Rembrandt als Bügelbrett zu verwenden. Aber | |
weit kommt man damit nicht, und selbst aus Lebensmitteln hergestellte "Eat | |
Art"-Objekte sind recht bald zum Verzehr nicht mehr geeignet. | |
Was der Satz "Kunst ist Lebensmittel" in Wahrheit bedeuten soll, hat der | |
frühere Präsident der Akademie der Künste, Adolf Muschg, erläutert: Er | |
plädiere gegen den Kommerz und für die Kunst "als Lebensmittel. Wir | |
brauchen sie dann, wenn uns die Stützen von Wert und Glauben und alles | |
Mögliche abhanden kommen, dringender als sonst". Kunst soll also stützen, | |
was morsch geworden ist. Sie soll den weltanschaulichen Halt geben, den der | |
Kommerz nicht bieten kann. Kunst wird Wert- und Glaubensprothese und damit, | |
nach Paragraf 811, unpfändbar. | |
Interessant ist dabei, dass Muschg sich nicht auf irgendeinen kunstsinnigen | |
Sonntagsprediger, sondern auf Friedrich Schiller beruft, den man eher nicht | |
in der Lebensmittelbranche vermutet hätte. Dessen "Ästhetische Erziehung | |
des Menschen" besage, so Muschg, "dass der Spieltrieb nicht nur, wie es im | |
CDU-Wahlprogramm richtig heißt, ein Lebensmittel ist, sondern dass der | |
Spieltrieb eine Schule auch der Vorstellungskraft und damit auch der | |
politischen Fantasie wäre. Wer gut spielen gelernt hat, der lernt auch | |
seine Einbildungskraft, seine Fantasie zu gebrauchen." | |
## Kunst & Aufbautraining | |
Es soll also schon bei Schiller zugegangen sein wie im deutschen | |
Kindergarten: Das Kind darf zwar spielen, aber nur, wenn es dabei etwas | |
lernt. Es greift nach einem bunten Bilderbuch und bekommt ein Curriculum zu | |
fassen. Es will mit seinen Kumpels in den Sandkasten und landet in einer | |
Vorschule der Ästhetik. Wie ehrgeizige Erziehung einen immer größeren Teil | |
der Kindheit erfasst und die armen Kleinen "spielerisch" mit dem | |
Einmaleins, mit englischen Vokabeln und Naturwissenschaften stopft, so soll | |
die Kunst zum Aufbautraining der Fantasie werden. | |
Und doch hat Schiller auch geschrieben, die Kunst sei "eine Tochter der | |
Freiheit". Von "der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der | |
Materie" wolle sie "ihre Vorschrift empfangen". Sie habe sich insbesondere | |
nicht dem "Nutzen", diesem "großen Idol der Zeit, dem alle Kräfte frönen | |
und alle Talente huldigen sollen", zu beugen. Wer also behauptet, Kunst sei | |
ein Lebensmittel, der unterstellt sie der Notdurft, und wer aus ihrem | |
sinnlosen Spiel ein Fantasietraining macht, der huldigt dem Nutzen. | |
Derlei Einsichten sollten im Förderantrag oder vor dem Kulturausschuss | |
tunlichst vermieden werden. Wer Gelder einwerben will, muss sein Vorhaben | |
irgendwie als nützlich oder sinnvoll darstellen. Spielt die Kunst selbst | |
kein Geld ein, sorgt sie nicht für Belehrung oder wenigstens für | |
Unterhaltung, wird der Antrag abgelehnt. Denn warum sollte den | |
Kulturinstitutionen gewährt werden, was den Sozialverbänden vorenthalten | |
wird? | |
## Kunst & Messing | |
Die Ökonomen verlangen Argumente. Doch, seltsam, an der Kunst perlen alle | |
Argumente, ob pro oder kontra, ab. Sie hat mit ihnen so wenig zu tun wie | |
die Interpretation von Kafkas "Schloss" mit Kafkas "Schloss". Das ist das | |
Paradox der Ästhetik: Je mehr sie erklären muss, desto weniger erklärt sie. | |
Die Erklärungsresistenz der Kunst ist das Einzigartige an ihr. Denn wo in | |
unserer kartografierten Welt gibt es noch einen solchen weißen Flecken? | |
Was, außer der Kunst, wird öffentlich und bleibt trotzdem hartnäckig | |
geheim? Wo gibt es etwas, das wie sie weder Sinn noch Nutzen hätte? | |
Alle gehören irgendwohin, geben auf artige Fragen artige Antworten, nur die | |
Kunst bleibt verstockt, und zwar umso mehr, je mehr noble Kunstliebhaber | |
ihre Existenz verteidigen. Wieso müssen Tausende ausgegeben werden, um | |
beispielsweise einen Kilometer Messing in die Erde zu versenken, wie es | |
Walter de Maria 1977 in Kassel getan hat? | |
## Kunst & Geld | |
Zu sehen ist nichts, zu spüren auch nicht. Damit ein Gefühl für Raum | |
entsteht? - Jeder Wegweiser, jede Architektur gibt dir ein genaueres. Damit | |
die Fantasie trainiert wird? - Löse lieber ein Sudoku. Nein, der | |
Erdkilometer muss versenkt werden, weil der Erdkilometer versenkt werden | |
muss. Wollen wir hoffen, dass eine solche Aktion den Künstler nährt, aber | |
das Kunstwerk selbst ist nicht hungrig. | |
Das Kunstwerk ist nicht nur satt, es pfeift auch auf die Betrachter, wenn | |
auch auf seine stumme Weise. Vielleicht regt es an und belehrt es, aber nur | |
nebenbei und gewiss nicht mehr als ein Gespräch unter Freunden oder | |
Wikipedia. Es ist manchmal sinnlich und manchmal lustig, aber weder will | |
irgendwer mit ihm ins Bett noch verleiht ihm einer den Comedypreis. | |
Gelegentlich sieht es aus wie die Natur, aber die Natur ist immer noch mehr | |
Natur. Wer die Vorzüge der Kunst zu kennen vorgibt, spricht meistens über | |
ganz etwas anderes und steht überdies im Verdacht, sich ihrer bedienen zu | |
wollen, ob als Galerist, Kritiker, Direktor oder Professor. Wer sie | |
unverzichtbar nennt, hofft bloß auf Zuschüsse. | |
Liegt aber darin der Nutzen der Kunst, dass sie nutzlos, und darin ihr | |
Sinn, dass sie sinnlos ist? Ach, geht mir fort mit diesen dialektischen | |
Taschenspielertricks. So viel ist aber zuzugeben: Ihre Sinnlosigkeit ist | |
das Andere und Sympathische an der Kunst. Weil sie weder Lehr- noch | |
Lebensmittel ist, erinnert sie daran, wie platt die meisten Lehren sind und | |
wie fade das tägliche Brot schmeckt. | |
©[1][Le Monde diplomatique], Berlin vom 9.12.2011 | |
12 Dec 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Stefan Ripplinger | |
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