# taz.de -- Erzählungen aus Arabien: Die Geheimnisse der Frauen | |
> Glück und Murmeln in Damaskus, Gewalt und Sinnlichkeit in Tripolis. Der | |
> Syrer Rafik Schami und der Libyer Kamal Ben Hameda erinnern sich an ihre | |
> Kindheit. | |
Bild: Rafik Schami wird nicht müde von seiner lange zurückliegenden Kindheit … | |
Die Augen der Welt sind derzeit auf Syrien und Libyen gerichtet, wo die | |
"arabische Revolte" ihre blutigste Wendung nahm. Mit den Augen eines Kindes | |
blicken der deutsch-syrische Erzähler Rafik Schami und sein | |
libysch-niederländischer Kollege Kamal Ben Hameda dagegen auf die | |
Vergangenheit dieser Länder. Ihre Bücher stehen dabei für zwei Arten, sich | |
an die eigene Kindheit erinnern. | |
Schami schildert in seinem neuen Werk, was ihn zum Erzähler machte. Ein | |
Spaziergang mit seinem Großvater in der Altstadt von Damaskus liefert ihm | |
die titelgebende Schlüsselszene. Dort trafen sie auf eine Frau, die ihren | |
Mann öffentlich zum Verkauf anbot, weil der ihr zu schweigsam war. "An | |
diesem Tag fasste ich den geheimen Vorsatz, Frauen immer Geschichten zu | |
erzählen, damit sie mich nicht verkaufen", behauptet Schami. Und wenn das | |
auch nicht ganz wahr sein sollte, so ist es doch, wie stets bei Schami, gut | |
erzählt. | |
Schamis neuestes Werk ist ein Sammelsurium unterschiedlicher Textsorten: | |
Kindheitserinnerungen und Anekdoten wechseln sich ab mit Reflexionen über | |
arabische Sprichwörter und Märchen sowie einem Redetext - seiner | |
Antrittsvorlesung zur Brüder-Grimm-Professur im Mai 2010 an der Universität | |
Kassel. Es ist damit vor allem eine Fundgrube für Fans, denen der | |
65-jährige Schriftsteller Einblicke in seine Gedankenwelt gewährt und die | |
er zu den Wurzeln seiner Erzählleidenschaft führt. | |
## Die Mutter holte ihn für Scheherezade aus dem Bett | |
Zentral sind dabei jene Nächte, die Schami mit seiner Mutter - die ihn | |
dafür eigens zwischen 11 und 12 Uhr aus dem Bett holte - vor dem Radiogerät | |
verbrachte, um den Geschichten der Scheherazade zu lauschen. Vom Juni 1956 | |
an strahlte der staatliche Hörfunk Syriens zwei Jahre und acht Monate lang | |
die Märchen aus "Tausendundeiner Nacht" aus. | |
Diese Sendungen "waren meine beste Schule und Scheherazade meine erste | |
Lehrerin", bekennt Schami. Lebhaft erinnert er sich an die Verärgerung | |
seiner Mutter, als damit plötzlich Schluss war - sie war fest davon | |
überzeugt, dem Rundfunk sei bloß das Geld ausgegangen, um die Sendung | |
weiter auszustrahlen. | |
Die Schlagfertigkeit seiner Mutter und der Mutterwitz seines Großvaters | |
haben Schami geprägt - vom Vater, der Bäcker war und deshalb immer früh | |
aufstehen musste, erfährt man weit weniger. Schamis Kindheit muss man sich | |
als eine glückliche vorstellen - Damaskus mit seinen vielen Gassen und | |
Geheimnissen ist für ihn "die schönste Stadt der Welt", wehmütig erinnert | |
er sich an Murmeln und Kinderspiele auf der Straße. Erst nach 1958 | |
verwandelte sich Syrien allmählich in jenen Spitzelstaat, vor dem Schami in | |
die Bundesrepublik fliehen sollte, wo er zu einem der erfolgreichsten | |
deutschsprachigen Autoren aufstieg. | |
## Märchenhaft, geheimnisvoll, beklemmendend | |
Einen ganz anderen Tonfall - märchenhaft, geheimnisvoll, aber auch | |
beklemmend - schlägt Kamal Ben Hameda in seiner Erzählung "Sieben Frauen in | |
Tripolis" an. Als Kind wächst der Ich-Erzähler praktisch allein unter | |
Frauen auf, im Kreis der Mutter und ihrer Freundinnen. Er lauscht ihren | |
Gesprächen, die von Mord und Totschlag handeln, bekommt ihre Geheimnisse | |
mit. | |
Da ist die lebenslustige Tante Fella, eine Jüdin, die ihn mit Bonbons | |
verwöhnt und die ihre traurige Tochter Tuna einer Affäre mit einem | |
schwarzen GI verdankt. Da ist Signora Filoma, eine Italienerin, deren | |
Familie seit drei Generationen in Tripolis lebt und die einst von ihrem | |
Großvater, einem Oberst, missbraucht worden war. Und da ist die sinnliche | |
Jugendfreundin Jamila, zu der die Mutter eine ganz besondere Beziehung | |
pflegt. | |
Aber da ist auch die Tante Zohra, die von ihrem Mann, einem geizigen | |
Ladenbesitzer, knapp gehalten wird. Oder Tante Hiba, die von ihrem Mann, | |
einem Säufer und Fettwanst, regelmäßig verprügelt wird. Und da ist das | |
junge Hausmädchen Zaineb, die sich selbst verbrennt, um einer Zwangsehe zu | |
entgehen. | |
## Gewalt bricht in die sorglose Kindheit ein | |
Die Welt der Männer, die sich in der Moschee oder in Kneipen herumtreiben, | |
falls sie sich nicht schon längst aus dem Staub gemacht haben, ist weit | |
entfernt. Nur manchmal bricht sie mit Gewalt in die ansonsten sorglose | |
Kindheit herein: die Schlachtung eines Opferlamms nimmt das traumatische | |
Erlebnis der eigenen Beschneidung vorweg. | |
Doch allmählich wird auch der kleine Junge erwachsen: Er beobachtet die | |
Prostituierten am Rande der Stadt, sucht die Nähe des Hirtenmädchens | |
Khadija, das in die Prostitution verkauft wurde, und fühlt sich zum | |
schwarzen Dienstmädchen Siddéna hingezogen. | |
Kamal Ben Hameda wurde 1953 in Tripolis geboren und ging zum Studium nach | |
Europa, wo er in den Niederlanden als Jazzmusiker und freier Dichter hängen | |
blieb. Die Stadt seiner Kindheit erinnert er als einen Ort, an dem Araber, | |
Berber, Schwarze, Italiener und Juden zwar einträchtig nebeneinander her | |
lebten, jeder für sich, die Folgen von Hunger, Krieg und Elend der | |
italienischen Kolonialzeit aber noch immer spürbar sind. Wie Rafik Schamis | |
Damaskus gibt es diese Stadt aber so nur noch in der Erinnerung ihres | |
Erzählers. | |
28 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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