# taz.de -- Neues Buch von Thomas Macho: Gesichter, überall Gesichter | |
> Thomas Machos Kulturgeschichte der Vorbilder und die Filme des spanischen | |
> Regisseurs Pedro Almodóvar ähneln sich – bei beiden geht es um Gesicht | |
> und Identität. | |
Bild: Früher lebten Heilige in den Erzählungen weiter, jetzt geht es um Image. | |
Im jüngsten Film von Pedro Almodóvar "Die Haut, in der ich wohne" dreht | |
sich alles um das schöne, begehrenswerte Gesicht einer jungen Frau. Gleich | |
zu Anfang erklärt ein Wissenschaftler und Arzt, das Gesicht sei der einzige | |
Teil des Menschen, der seine Identität verbürge. Doch dann erweist sich das | |
schöne Gesicht als perfides Kunstprodukt ebendieses Arztes, geschaffen nach | |
dem Vorbild seiner toten Frau und grausam einem jungen Mann regelrecht | |
aufgenäht. Ein typischer Almodóvar, der raffiniert mit den Identitäten | |
spielt. Und zugleich eine Story, in der Ovids Geschichte vom Bildhauer | |
Pygmalion, der sich in seine selbst geschaffene Statue verliebte, ebenso | |
herumspukt wie die Horrorklassiker um Frankenstein. | |
Fast könnte man glauben, Almodóvar habe das neue Buch von Thomas Macho | |
"Vorbilder" gelesen. Denn in dem fast 500-seitigen Werk des | |
Kulturwissenschaftlers finden sich all jene "Schöpfer" von Ovid bis | |
Hitchcock, die sich die Frau nach ihrem Bild, ihren Männerfantasien, | |
erschaffen. Und ähnlich wie bei Almodóvar geht es auch bei Macho um Gesicht | |
und Identität. "Wir leben in einer facialen Gesellschaft, die | |
ununterbrochen Gesichter produziert". Von den ersten Fotografien bis zum | |
exhibitionistischen Fotokult der sozialen Netzwerke und der voyeuristischen | |
Gesichtserkennung bei Facebook. | |
Früher, so schwärmt Thomas Macho leicht nostalgisch, lebten Heilige, Helden | |
oder Genies in den Mythen und Erzählungen der Menschen. Das Volk verehrte | |
seine Vorbilder, wie die Jungfrau Maria oder Jeanne dArc, weil sie ihm Halt | |
und Orientierung boten. Die modernen Bildmedien dagegen reduzieren das | |
Vorbild buchstäblich auf ein Bild, ein Image, wie Macho am Beispiel der | |
Models ausführt. Von Medien und Marketing designt, existiert das Model | |
gewissermaßen nur noch als faszinierendes Traumbild; geschaffen, um in | |
Modezeitschriften, Werbung und auf allen Kanälen unsere Blicke zu betören. | |
Ein Bild, so Macho, das sich leicht zu einem "monströsen Doppelgänger" | |
entwickeln und wie ein Dämon die ursprüngliche Persönlichkeit zerstören | |
kann. Eine düstere Diagnose. Für coole Ironie und freches Spiel mit diesen | |
Idolen und Schönheitsnormen ist da kein Platz. | |
Kritisch seziert Macho auch das "making of" von Politikern und Prominenten | |
und analysiert den eisernen Imperativ ihres Erfolgs: Gesicht zeigen, ein | |
Maximum an Aufmerksamkeit erzielen! "Prominenz heißt, erreicht zu haben, | |
dass einem alle Blicke folgen und folgen wollen." | |
Allerdings eine ziemlich riskante Erfolgsmethode. So zeigen die Medien den | |
Politiker zwar gern volksnah und im Kreis seiner Lieben mit Frau und Kind | |
und Hund. Aber noch lieber verfolgen sie ihn erbarmungslos dort, wo sein | |
Image als Trugbild auffliegt. Das demonstrierte im Frühjahr der Fall | |
Karl-Theodor zu Guttenberg, als clevere Internetnutzer die adelige | |
Lichtgestalt als eiskalten Lügner entlarvten. Wer seinem Bild nicht mehr | |
entspricht, den kippt das Massenpublikum. | |
## Vorbild und Tod | |
Im irritierendsten Teil des Buches geht Macho schließlich der Frage nach: | |
Wie sieht das Bild – das gute Vorbild – vom eigenen Tod aus? Dabei entdeckt | |
der "Experte des Todes", der seit Jahrzehnten Praktiken und Vorstellungen | |
von Tod und Sterben erforscht, eine latente Selbstmordfaszination in | |
unserer Kultur. Die Spur führt von antiken Philosophen wie Sokrates und | |
Seneca über das Selbstopfer Christi am Kreuz zu den zahllosen Märtyrern, | |
die ihm folgten. | |
Aber erst im Zeitalter der modernen Medien verstärkt sich dieser verbotene | |
Zug dann zu einer Art "Modetrend". Von Goethes selbstmörderischem | |
Romanhelden "Werther" bis zum realen Freitod von Robert Enke 2009 belegt | |
Macho eine verhängnisvolle Vorbildwirkung des Suizids. | |
Nicht nur existenzialistische Texte überhöhen den Freitod zu einer | |
heroischen Tat, die zur tödlichen Nachahmung verführt, sondern zunehmend | |
auch Gemälde, Videoinstallationen und Filme. Dazu liefern Zeitungen, | |
Internet, Fernsehen und nicht zuletzt ein "Lexikon der berühmten | |
Selbstmörder" die passenden Anleitungen. | |
Sie alle aber verschweigen, was der Tod wirklich ist: das endgültige Aus | |
des Lebens. Vorbilder "verkörpern, was zur Wirklichkeit treibt. In ihnen | |
manifestiert sich ein unbedingter Wille zur Realität; auch wenn diese | |
Realität im eigenen Tod gipfelt." | |
Machos Buch, das aus unterschiedlichen Essays zur Vorbildgeschichte | |
hervorgegangen ist, bietet eine unglaubliche Fülle an Anregungen, mit | |
Texten und Bildern aus Kunst und Film, Literatur und Philosophie. Aber erst | |
im Zusammenhang enthüllen sie ihren roten Faden: den nihilistischen Kern | |
der modernen westlichen Mentalität – gipfelnd in der Selbstmordfaszination. | |
Doch die Macht des medialen Vorbilds ist ambivalent: Sie kann zerstören | |
oder aber befreien. Das zeigte exemplarisch der "Arabische Frühling". Er | |
entzündete sich am Selbstmord eines Tunesiers, der sich aus Protest gegen | |
das Regime öffentlich verbrannte. Von dieser Tat sprang der Freiheitsfunke | |
auf die anderen Länder über. Und zwar mit Hilfe der neuesten Medien: mit | |
Handys und Computern, über Twitter und Facebook. | |
25 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Elke Dauk | |
## TAGS | |
Digitalisierung | |
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