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# taz.de -- Neue Formen des Wir-Gefühls: Du und ich und alle
> Gibt es eine Sehnsucht nach der Rückkehr zu Gemeinschaften? Was ist
> "wir"? Und was bedeutet eigentlich Gemeinschaft? Philosophen und
> Kulturwissenschaftler geben Antworten.
Bild: Gemeinschaft hat viele Formen – und ebensoviele Definitionen.
ESSEN taz | Wer bildet das "Wir" von Gemeinschaften von den WGs bis zu den
Netz-Communitys? Unter dem Titel "Communitas, Commune, Communismus" wurde
im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen über diese Fragen diskutiert.
Einen Anlass für die Tagung bildete die parallel im benachbarten Museum
Folkwang gezeigte Ausstellung des niederländischen Video- und Filmkünstlers
Aernout Mik ebenfalls unter dem Titel "Communitas". Sabine Marie Schmidt,
die Kuratorin der Ausstellung, legte dar, dass Gemeinschaft für Aernout Mik
einen ebenso aktuellen wie offenen Begriff mit vielen Bezügen darstellt.
In den Sozialwissenschaften ist der Begriff "Gemeinschaft" oft positiv
besetzt. Gleichzeitig gilt er als problematisch, weil viele Gemeinschaften
Geborgenheit nur suggerieren - etwa in militärischen Verbänden oder
Gefängnissen. Aus dem Dilemma, dass Gemeinschaften nur in der Fantasie der
an ihnen Beteiligten existieren, zogen Jean-Luc Nancy und andere
Philosophen radikale Konsequenzen, wie die Frankfurter Philosophin
Francesca Raimondi ausführte.
Nancy verschlankte "Gemeinschaft" zu einem Begriff jenseits aller konkreten
Lebensformen. Er spricht von der "un- oder nicht-darstellbaren
Gemeinschaft", weil diese weder in einem soziologischen Begriff aufgeht,
noch bestimmte soziale Gruppen umfasst, noch eine Alternative zur
Gesellschaft darstellt. Gemeinschaften bilden dennoch einen Schutzwall
gegen Nicht-Zugehörige und ein Pflichtverhältnis unter den Zugehörigen.
## Göttliche Gemeinschaften
Nach den Ausführungen von Francesca Raimondi ist der Begriff "Gemeinschaft"
überhaupt nur mit negativen Bestimmungen, was Gemeinschaft nicht ist, zu
fassen: Sie ist maß- und grenzenlos, ohne Anfang und ohne Ende, aber
jederzeit und überall ("ubiquitär") präsent. Dank solcher negativer
Bestimmungen oder der rein formalen Charakterisierung als "Relationalität"
weist dieser Gemeinschaftsbegriff die gleichen Qualitäten auf, wie sie
Theologen Gott zuschreiben.
Dieser ist ebenfalls unfassbar, ewig, namen-, grenzen-, anfangs- und
endlos, aber allgegenwärtig. Gemeinschaft wäre dann ein Gedankenkonstrukt
ohne Repräsentation in der sozialen Realität - ein diffuses "Noch-Nicht"
(Raimondi), das einzig darauf hinweist, wie brüchig und problematisch
existierende soziale Beziehungen und Verhältnisse geworden sind.
## Kommunistische Gesten
In dieser Offenheit und totalen Unbestimmtheit gleicht der Begriff
"Gemeinschaft" dem des "Kommunismus", den Frank Ruda mit Berufung auf Alain
Badiou und Slavoj Zizek wenigstens als "Geste" zu retten versuchte. Dagegen
argumentierte der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik mit Vehemenz und
dem Hinweis, dass ein wirklich universalistisches Konzept von Demokratie
und Rechtsstaat einer Wiederbelebung des Kommunismus in theoretischer und
politischer Hinsicht vorzuziehen sei.
Wolfgang Kraushaar zeigte in seinem konzisen Vortrag, welche Bedeutung der
ebenso extensive wie repressive Gemeinschaftsbegriff in der
Kommune-Bewegung Ende der 60er Jahre hatte und wie er sich in der
nachfolgenden Landkommune- und Alternativbewegung relativierte und
politisch rationaler artikulierte. Von der Kinderladen- über die Frauen-
und die Ökologiebewegung blieb von den anfänglich fantastischen
Vorstellungen vom "gelebten Kommunismus" und vom "neuen Menschen" und der
Destruktion aller Sozialbeziehungen, wie sie Rainer Kunzelmann zeitweise
propagierte, nichts übrig.
Steffen Andreae berichtete über das Leben in der bis heute existierenden
und florierenden Kommune Niederkaufungen bei Kassel. Dank intelligenter und
umweltbewusster Organisation ihrer Arbeit und ihres Lebens erwirtschaftet
die Kommune monatlich rund 50.000 Euro und kommt mit einem Budget von rund
900 Euro pro Mitglied aus.
## Beichtstühle im Netz
Oliver Leistert, Kommunikationswissenschaftler in Budapest, entzauberte in
seinem sehr informativen Beitrag Facebook und andere Social Media als
"Beichtmaschinen", deren Gemeinschaftlichkeit darin bestehe, dass sich
"alle User selbst viel zu wichtig nehmen" und dem Datenschatzhorter das
Material für lukrative Geschäfte mit der Meinungs- und der
Konsumforschungsindustrie gratis ins Haus liefern. Nachdrücklich
demontierte Leister die Vorstellung von einer Facebook-Rebellion in
Nordafrika, die er als eine Suggestion fürs westliche Fernsehpublikum
betrachtet.
Claus Leggewie schlug den Bogen von der sozialwissenschaftlichen Debatte
zur Ausstellung mit den Videos von Aernout Mik. Er benützte die Gelegenheit
für eine gewagte These zu zeitgemäßer politischer Kunst: Agitprop,
Staatskünstlertum, l'art pour l'art und anderes seien passé, "das hatten
wir" - so Leggewie. Für "kitschig, idiotisch und zerdacht" hält er mit
kargen Mitteln operierende Kunstwerke wie Hans Haackes "Die Bevölkerung"
(1999) im deutschen Reichtagsgebäude. Haacke setzte das politische Problem
des Zusammenlebens von Deutschen und Nicht-Deutschen mit einem einzigen
Wort - "Die Bevölkerung" - in ein stimmiges Bild um.
Strittig bleibt, ob die stummen Akteure in den opulenten Videofilmen von
Aernout Mik den hybriden Anspruch erfüllen können, als "Sprechchöre
Gemeinschaften im Kopf der Betrachter" ästhetisch umzusetzen und verlogene
Gemeinschaftsbilder zu "unterwandern und zu dekonstruieren", wie Leggewie
das formulierte, oder ob sie nicht eher stumm bleiben.
27 Jan 2012
## AUTOREN
Rudolf Walther
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