# taz.de -- Österreichs Ein-Mann-Opposition: Ein Kino der Verletzten | |
> Peter Kern ist Schauspieler, Filmregisseur und Enfant terrible im | |
> österreichischen Kulturbetrieb. Jetzt erscheint erstmals eine Auswahl | |
> seines umfangreichen Filmschaffens auf DVD. | |
Bild: Die BayernLB kaufte 2007 die Bank Hypo Alpe Adria, 2009 wurde sie verstaa… | |
Eine Schlüsselszene aus Peter Kerns "Gossenkind" von 1993: Karl Heinz | |
Brenner (Winfried Glatzeder) löst sein Konto und gleichzeitig seine gesamte | |
bürgerliche Existenz auf und herrscht bei der Gelegenheit den | |
Bankangestellten an: "Bitte zahlen Sie aus und reden Sie mich nicht an!" | |
Vorher lernt er den jugendlichen Stricher Axel kennen und verfällt ihm | |
sofort. Das "Gossenkind" Axel, das mit Unschuldsmiene und Elvis-Fönfrisur | |
am Bahnhof herumhängt und reiche alte Männer abschleppt, um seiner | |
brutalisierten Familie zu entkommen, hat sein Leben transformiert. | |
Im Bankangestellten tritt ihm ein letztes Mal all das gegenüber, was er nun | |
hinter sich zu lassen können glaubt: Respektabilität, Notlügen, | |
Kosten-Nutzen-Rechnungen: "Ich finde Sie grässlich." Das andere Leben, das | |
er sucht, wird er nicht finden, es gelingt ihm noch nicht einmal, sich von | |
diesem einen Begriff zu machen, der über "Liebe machen im Wald" hinausgehen | |
würde. | |
Doch in den verachtungsvollen Sätzen, die er seinem Gegenüber und | |
gleichzeitig der verwalteten Welt schlechthin entgegenschleudert, | |
artikuliert sich ein unbedingter Freiheitsdrang, der nicht in | |
demokratischer Manier abstrakte Rechte einfordert, sondern unmittelbar dem | |
gelebten Leben entspringt, als Rückseite von Schmerz. | |
Peter Kern ist vieles auf einmal: ein ehemaliger Wiener Sängerknabe zum | |
Beispiel, als Schauspieler in wichtigen Filmen Fassbinders, Syberbergs, | |
Wenders ein Veteran - ein Überlebender, ein Erbe - des Neuen Deutschen | |
Films, heute vor allem auch das Enfant terrible der österreichischen | |
Kulturszene, eine Einmannopposition gegen den Status quo, die sich lustvoll | |
und unnachgiebig mit allen auf einmal anlegt, mit Presse, Politik, | |
Filmfestivals, Opernhäusern. | |
## Filmografie mit 30 Titeln | |
Seltsamerweise geht neben all dem oft fast unter, dass Peter Kern seit | |
mittlerweile drei Jahrzehnten auch und vielleicht vor allem ein | |
Filmregisseur ist; und zwar einer der interessantesten und vielseitigsten | |
im deutschen Sprachraum. Um die 30 Titel umfasst seine Filmografie | |
inzwischen: Dokumentarfilme und Spielfilme, Langfilme und Kurzfilme, für | |
Fernsehen und Kino. | |
In die Kinos finden seine Werke nur selten, auf DVD ist sehr wenig | |
verfügbar. Immerhin Letzteres wird sich demnächst bessern: Die Filmgalerie | |
451 veröffentlicht im Januar den ersten Teil einer Peter-Kern-Edition mit | |
den Filmen "Haider lebt", "Hamlet: This Is Your Family" und | |
"Blutsfreundschaft", ein vierter, "Domenica", wird per streaming verfügbar | |
gemacht. Zwei weitere zentrale Werke, "Gossenkind" und "Knutschen kuscheln | |
jubilieren" sind vor ein paar Jahren bei Pro-Fun Media erschienen. | |
Gerade "Knutschen kuscheln jubilieren" ist mindestens ein kleines Wunder. | |
Gewissermaßen komplementär zu "Gossenkind" porträtiert der Film eine Gruppe | |
alter Schwuler, die in einer Kölner Kneipe ihrer Einsamkeit zu entfliehen | |
suchen und mit jungen, oft migrantischen Strichern Kontakt aufnehmen. | |
"Knutschen kuscheln jubilieren" beginnt dokumentarisch, die Freier erzählen | |
aus ihrem Leben und klagen ihr Leid, später spielen sie sich selbst in | |
einem rührenden, wehmütigen Spielfilmplot: Die Kneipe muss schließen, die | |
Gruppe droht zu zerfallen, dann gewinnt einer eine Venedig-Reise und lädt | |
seine Freunde mit ein. | |
Kerns Film verleugnet nie die Härten des Milieus, in dem er sich bewegt, | |
und umarmt seine Protagonisten doch gleichzeitig bedingungslos. Gewidmet | |
ist "Knutschen kuscheln jubilieren" dem philippinischen Regisseur Ishmael | |
Bernal, dessen libidinös-ausuferndes Meisterwerk "Manila by Night" im Kino | |
des Österreichers einen unerwarteten Widerhall erlebt. | |
## Hamlet mit aussteigewilligen Nazis | |
Nachhaltig geprägt hat das Filmschaffen Kerns außerdem eine längere | |
Arbeitsbeziehung mit Christoph Schlingensief. An dessen umstrittener | |
Hamlet-Inszenierung am Schauspielhaus Zürich im Jahr 2001, die vor allem | |
aufgrund der Beteiligung einiger angeblich ausstiegswilliger Neonazis von | |
sich reden machte, wirkte Kern nicht nur als Schauspieler mit, er | |
begleitete das Team außerdem mit seiner Kamera. | |
Die Dokumentation "Hamlet: This Is Your Family" hält das Projekt in seiner | |
ganzen Ambivalenz fest, die Rechten inszenieren sich auch für Kerns Film | |
auf fadenscheinige Weise (inklusive ausgiebiger "Versöhnung" mit einem | |
Antifa-Bühnentechniker), doch Kerns "Kino der Verletzten", das mindestens | |
so inklusorisch ist wie Schlingensiefs Theaterpraxis, wendet sich deswegen | |
nicht von ihnen ab. | |
Die Schlingensiefschen Provokationen (nicht aber die zugehörigen | |
Theorieversatzstücke) sind seit "Hamlet" allgegenwärtig im Kern-Werk, zum | |
Beispiel auch in den beiden jüngsten Arbeiten, "King Kongs Tränen" und | |
"Mörderschwestern", zwei komplexen Metafiktionen zwischen Trash, Pathos und | |
Agitation. Am deutlichsten in der Politgroteske "Haider lebt - 1. April | |
2021", seinem vermutlich bekanntesten Film. Sechs Jahre vor der | |
tatsächlichen Todesfahrt des österreichischen Rechtspopulisten entwarf Kern | |
eine krude Fantasie über das Ableben und die nachfolgende | |
Wiederauferstehung Jörg Haiders. | |
Blickt man heute, da der langjährige Landeshauptmann Kärntens zu einer Art | |
bösem Geist der österreichischen Politik avanciert ist, auf diesen | |
starbesetzten Film, wirkt "Haider lebt" nicht nur prophetisch, sondern, bei | |
aller Lust am Spekulativen, fast noch zu optimistisch; einen großangelegten | |
Aufstand auch nur der alternativen Kulturschickeria gegen den | |
Alltagsrassismus, wie ihn der Film nicht nur in seiner Fiktion | |
heraufbeschwört, sondern der er in gewisser Weise selber ist, einen solchen | |
Aufstand kann man sich heute, zu Zeiten des geschickteren Populisten H. C. | |
Strache, jedenfalls kaum noch vorstellen. | |
## Verschobenes ästhetische Referenzsystem | |
"Blutsfreundschaft" von 2009 beschäftigt sich ein weiteres Mal mit der | |
rechtsextremen Jugendkultur und ist einer der sonderbarsten Filme Kerns. | |
Helmut Berger spielt Trintzinsky, einen alten Schwulen, der in Wien ein | |
Reinigungsgeschäft leitet. Aber "spielt" ist vielleicht schon das falsche | |
Wort, weil die Rolle den Schauspieler kaum zur Hälfte zudeckt: Es ist immer | |
zuerst Berger, der da wehmütig vor dem Spiegel steht und seine faltig | |
gewordene Haut betastet. | |
Und es ist auch zuerst Berger, der den jungen Neonazi Alex bei sich | |
aufnimmt und durch einen melodramatischen Plot begleitet, der bis nach | |
Casablanca führt und auf seine Weise die wahnwitzigeren Filme Bergers und | |
seines Lebensgefährten Luchino Visconti wiederauferstehen lässt. | |
Das ästhetische Referenzsystem des Regisseurs mag sich im Laufe des letzten | |
Jahrzehnts von Bernal/Fassbinder zu Schlingensief verschoben haben, aber | |
das sind nur Differenzen an der Oberfläche; die eigentlichen Motive und | |
Antriebskräfte dieses außergewöhnlichen Werks sind konstant geblieben. | |
Oft drehen sich die Filme um Kneipen und Nachtclubs, um ranzige Kneipen und | |
uncoole Nachtclubs, genauer gesagt, "Etablissements" eben, meist irgendwo | |
zwischen Alkoholikerstammtisch und besserem Bordell angesiedelt, auf | |
Äquidistanz jedenfalls zu hipper Subkultur und bürgerlicher | |
Respektabilität. | |
Das "Bel Ami" in "Gossenkind", das "Le Clou" in "Knutschen kuscheln | |
jubilieren", die Schwulenbar in Blutsfreundschaft (als Gegenstück zur | |
Nazikneipe "Knecht") sind die Orte, an denen das Kern-Kino ganz bei sich | |
ist. Rückzugsorte sind das, abgeschieden von der feindseligen Außenwelt, | |
aber deshalb noch keine Schutzräume, denn auch dann, wenn man sich hier | |
seine Wunden zu heilen versucht, fügt man sich immer schon gegenseitig neue | |
zu. Aber immerhin unter den eigenen Bedingungen. Es gibt keine Unschuld im | |
Kino des Peter Kern, auch keine Sehnsucht nach Unschuld; wohl aber eine | |
Sehnsucht nach Freiheit. | |
Peter Kern: "Haider lebt", "Domenica", "Hamlet: This is Your Family", | |
"Blutsfreundschaft". Auf DVD und als Download ab 20. 1. bei Filmgalerie 451 | |
29 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Lukas Foerster | |
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