# taz.de -- Analyse der Proteste: Der Occupy-Besetzerzauber | |
> Occupy ist tot. Warum die Bewegung trotzdem erfolgreich war, und was sie | |
> Berlin gebracht hat. Ein Kommentar. | |
Bild: Von der Großbewegung zur politischen Kern-Gruppe: Occupy-Besetzer in Ber… | |
Occupy ist tot. Es lebe die Bewegung!" Was unter dem Namen "Occupy Berlin" | |
vor zwei Monaten begann, lässt sich inzwischen mit diesem altbackenen | |
Slogan trefflich beschreiben: Nach etlichen Besetzungen, Diskussionen, | |
Streitigkeiten, Spaltungen und Wiederfindungsbemühungen ist vom | |
mitreißenden Besetzergeist - von Occupy im wörtlichen Sinne - nicht mehr | |
viel zu erkennen. Die Bewegung, an der nach wie vor Menschen | |
verschiedendster Gesinnung und Herkunft arbeiten, ist dagegen sehr aktiv. | |
Sie konsolidiert sich auf einen unaufgeregten, eher konventionellen Kern | |
politischer Aktivität. Der allerdings könnte es in sich haben und Berlin | |
bereichern. | |
"Ideen verbreiten sich, wenn sie gut sind", sagt Florian Hauschild. "Denn | |
dann verbinden sie die verschiedensten Menschen und verändern langsam das | |
System." Hauschild steht Anfang November mit 300 Aktivisten auf der | |
Reichstagswiese und wohnt einem faszinierenden Schauspiel bei: In | |
dreistündiger, konzentrierter Arbeit, verabschiedet die Asamblea genannte | |
Vollversammlung einen offenen Brief an den Senat: Occupy Berlin, bisher im | |
Kirchhof der St. Mariengemeinde in Mitte versteckt, fordert ein Camp auf | |
einem zentralen Platz in der ach so toleranten, weltoffenen Stadt. Wie die | |
meisten Aktivisten hält Hausschild ein gut ausgerüstetes Lager zu diesem | |
Zeitpunkt für ein entscheidendes Moment der Bewegung. | |
## Echte Aufbruchsstimmung | |
Der Blogger Hausschild schreibt seit einigen Jahren unter den Pseudonymen | |
"the babyshambler" und "le bohemien" über Geldwertschöpfung und Zinssystem, | |
davon könne er leben, sagt er. Seit es Mitte Oktober auch in Berlin dem | |
losging, was die Medien der Einfachheit halber "Occupy" betitelten, kämpft | |
der studierte Politikwissenschaftler nicht mehr allein: "Ganz normale | |
Bürger reden wieder über Probleme wie die Ursachen der Finanzkrise, die sie | |
lange verdrängt hatten." Im Oktober herrscht Aufbruchstimmung, viele gute | |
Ideen schwirren jungfräulich durch die Luft. | |
Die dringendste Frage der Medienvertreter - wann werden diese Ideen | |
umgesetzt? - bleibt indes unbeantwortet. Die Aktivisten begreifen sich als | |
Ansammlung von Einzelpersonen. Nur in dieser einen Frage besteht | |
Übereinstimmung: "Es ist zu früh für konkrete Forderungen. Wir sind kein | |
Block, wir sind Individuen in einem Lernprozess. Ihr werdet schon sehen." | |
Ähnlich große Freiräume nahmen sich höchstens die Piraten nach ihrem | |
erstmaligen Einzug ins Abgeordnetenhaus kurz zuvor im September heraus: | |
Erstmal wird alles von Grund auf hinterfragt. Gleichzeitig haben einige | |
Occupy-Aktivisten hehre Ansprüche. "Wir wollen alle mitnehmen", sagt Saskia | |
Koch. Für die Gründerin der Arbeitsgruppe Camp, die zu den treibenden | |
Kräften der Bewegung im Kampf um öffentlichen Raum gehört, steht im | |
Vordergrund, "auch solche Leute einzubeziehen, die von der Gesellschaft | |
nach ganz unten abgedrängt wurden und jetzt Hilfe brauchen". Obdachlose, | |
die eine Bleibe suchen. Sie sollten das Camp am einstigen | |
Bundespressestrand mit aufbauen und hier den Weg zurück in die Gesellschaft | |
finden. | |
Diese Position teilen nicht alle. "Das hier ist kein politisches Forum | |
mehr", sagt Roman Asriel Anfang Dezember. Der 35-Jährige steht auf der | |
Sandfläche, auf dem einige Aktivisten seit einem Monat campen und denkt | |
wehmütig an die Anfänge der Bewegung vor knapp zwei Monaten zurück. Viele | |
der 50 Zelte stehen an diesem windigen Nachmittag leer, einzelne Obdachlose | |
haben sich in die großen Aufenthaltszelte, die für Technik und | |
Arbeitsplätze vorgesehen sind, einquartiert. Sie machen seit den | |
Anti-Castor-Protesten, für die viele Aktivisten ins Wendland gefahren sind, | |
einen Großteil der Camper aus. Viele bringen sich konstruktiv bei Aufgaben | |
wie Koch- und Spüldienst ein. Doch Asriel glaubt, dass die inhaltlichen | |
Ziele der Bewegung sie wenig interessieren. Deshalb sei das Camp gekippt. | |
Und damit eine der Grundlagen von Occupy. | |
## Für jeden offen | |
Im Camp wollten die Occupy-Aktivisten ihre Vision von einer undefinierten, | |
für jeden offenen Bewegung realisieren. Doch weil ihnen anfangs kein | |
zentraler Platz zur Verfügung stand und der Aufenthalt am | |
Bundespressestrand ständig gefährdet schien, ging es lange eben nur um die | |
Platzfrage. Mit den guten Ideen, die laut Blogger Florian Hausschild die | |
Menschen hätten verbinden können, beschäftigten sich die Aktivisten zu | |
wenig. Für diesen Versuch grenzenloser Offenheit stand in Berlin der | |
Begriff Occupy. Weil dennoch viele Einzelinteressen unausgesprochen im Raum | |
hingen, ist er gescheitert. Occupy ist tot. Das neu erwachte politische | |
Bewusstsein bei vielen Aktivisten nicht. | |
Für die Arbeitslosen und Selbstständigen, alleinerziehenden Väter und | |
Studentinnen, die die Bewegung ausmachen, geht es nicht um den sofortigen | |
Umstoß des Wirtschaftssystems. Sondern darum, wirtschaftliche und | |
politische Zusammenhänge zuerst zu verstehen und dann möglichst vielen | |
Menschen weiterzuerzählen - damit Stück für Stück die viel zitierten "99 | |
Prozent" entstehen. Dieser Grundgedanke für sich betrachtet ist die | |
nachhaltigste Arbeit an einer gesellschaftlichen Veränderung, die man sich | |
vorstellen kann. | |
Ingvar Bogdahn leistet seinen Beitrag, damit sie konkret wird. Er | |
organisiert Workshops zum Thema Geldwertschöpfung in öffentlicher Hand, | |
genannt Monetative. Sein Ziel: "Wir sollten uns da einarbeiten und dann | |
bald Konsensforderungen dazu verabschieden", sagt er in der Asamblea am 10. | |
Dezember. Der Student ist einer der Aktivisten, die weiterhin regelmäßig zu | |
den Versammlungen kommen, in denen es jetzt wieder um "Weltthemen" gehen | |
soll. Er steht momentan im Kontakt zu Doktoranden und Personen wie den | |
Wirtschaftswissenschaftlern Bernd Senf und Joseph Hubner - die Art von | |
Intellektuellen, die die Themen der Bewegung auf akademischer Ebene schon | |
lange behandeln. Bogdahn, der Biologie studiert, arbeitet sich in | |
wirtschaftswissenschaftliche Texte ein. Als sein Querschnittsthema ergibt | |
sich daraus der Einfluss des Wirtschaftssystems auf den Klimawandel. Die | |
Inhalte will er nun in die Bewegung tragen, mit Workshops, ganz | |
konventionell in beheizten Räumen mit Stromanschluss und Bestuhlung. | |
Ein Kern von Aktivisten besinnt sich also auf recht konventionelle | |
politische Arbeitsformen. Occupy samt Camp war eine wichtige Phase auf | |
ihrem Weg dort hin, dabei haben sie neue Formen der Protest- und | |
Kommunikationskultur entwickelt. Das ist es, was Berlin aus zwei Monaten | |
Occupy-Besetzerzauber mitnimmt. | |
## Alle auf Augenhöhe | |
Johannes Ponader bringt ganz andere Interessen als Bogdahn in die Bewegung | |
mit. Der Münchener Theaterpädagoge hat sich Mitte Oktober entschlossen, | |
seine Arbeit in einem Schultheaterprojekt aufzugeben und das nächste halbe | |
Jahr an Occupy zu arbeiten. Von Anfang an war der 34-Jährige eine treibende | |
Kraft der Bewegung, vor allem die Asambleen hält er hoch. "Kommunikation | |
verschiedenster Menschen auf Augenhöhe, das ist es, worum es hier geht", | |
sagt Ponader. Er hat in den vergangenen zehn Wochen immer wieder versucht, | |
sie weiter in die Gesellschaft zu tragen. Teilweise mit Erfolg: Die | |
Bewegung wird in den Transparenzausschuss der Bezirksverordnetenversammlung | |
Mitte eingeladen; Polizisten sagen feixend: "Ihr seid doch ein | |
Studienkreis, oder?", um eine unangemeldete Versammlung nicht auflösen zu | |
müssen; ein Staatssekretär des Bundesfinanzministeriums sorgt dafür, dass | |
das Camp zwischen den Jahren gesichertes Asyl auf dem Bundespressestrand | |
bekommt. Denkt man Bogdahns wissenschaftliches Interesse und Ponaders | |
Kreativität zusammen, zeigt sich das ganze Potenzial der neuen Bewegung. | |
Zum Abschluss der Asamblea am 10. Dezember weist Bogdahn die Aktivisten auf | |
Workshops einer anderen Gruppe hin, weil keine eigenen Aktionen anstehen. | |
"Ich fänds cool, wenn da einige von uns hingehen und später drüber | |
diskutieren. Kommt bestimmt was bei rum", sagt er. Frei nach dem Motto: | |
Eine Idee verbreitet sich, wenn sie gut ist - egal, ob sie von uns ist oder | |
nicht. | |
1 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Karen Grass | |
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