| # taz.de -- Debatte Christian Wulff: Schaum auf der Welle | |
| > Christian Wulff ist der moderne Nachfahre von Ludwig XVI., dem Erfinder | |
| > der Guillotine. Wulff sollte nicht geköpft, aber suspendiert werden - von | |
| > sich selbst. | |
| Bild: Ludwig XVI.: Mit ihm begann die Kopflosigkeit an der Spitze europäischer… | |
| Die schlimmste Strafe hebt niemand auf. Lebenslang inhaftiert zu sein in | |
| sich selbst. Es ist wohl besser, wir sehen uns eine Weile nicht!, sagen | |
| aufgeklärte Menschen zueinander. Warum immer nur zu anderen? | |
| Ich wäre dafür, Christian Wulff eine Zeit lang davon zu suspendieren, | |
| Christian Wulff sein zu müssen. Wie mag er morgens aufwachen? Mit einem | |
| "Nicht du, nicht schon wieder du!"? Dass auch diese Kolumne nicht ohne den | |
| Namen Wulff auskommt, ist ein Zeichen. Und zwar ein ungutes. | |
| Es ist Jahresanfang, Freiraum also für ein wenig Grundsätzlichkeit. "Der | |
| Einzelne ist nur Schaum auf der Welle, Größe purer Zufall." Es handelt sich | |
| bei diesem Zitat nicht um eine Analyse der Stellung des Bundespräsidenten | |
| im Allgemeinwesen. Zu betrachten ist vielmehr die Welle sowie die Position | |
| des Einzelnen in ihr. | |
| ## Der Medien-Tsunami | |
| Die Welle, das sieht jeder, ist das, was sich gerade über Wulff entlädt. | |
| Recht tsunamiförmig, die Realwoge kam damals auch über Weihnachten. Die | |
| gegenwärtige ist eine Bewegungsform der Medien. Ihre Selbststeuerung ist | |
| begrenzt, um nicht zu sagen: sie ist nach dem Anfangsimpuls eigentlich | |
| nicht mehr vorhanden; der Rest ist Eigendynamik, ist Physik. | |
| Kurz: Welle ist Welle. Um uns herum geht die Welt unter, oder zumindest der | |
| Euro, wir aber reden über einen Bundespräsidenten, der - mit einigen | |
| Abstrichen und bei absoluter Windstille betrachtet - nichts gemacht hat. | |
| Die Art, wie die Wellen der öffentlich Meinenden am Ufer niederbrechen, hat | |
| Thomas Mann im "Tod in Venedig" beschrieben: Sie senken, Stieren gleich, | |
| die Hörner und rennen mit Brüllen gegen das Ufer an. Alle gegen Christian. | |
| Das ist schon ein wenig, wie guillotiniert zu werden. | |
| Am Berliner Ensemble begann Claus Peymann das Jahr mit einem | |
| Revolutionsstück, von genau dem Autor, der den schönen Satz über die | |
| Stellung der Journalisten und aller Übrigen im Universum gesagt hat: "Der | |
| Einzelne ist nur Schaum auf der Welle, Größe purer Zufall." Georg Büchner | |
| hat diese Überlegung an seine Freundin gesandt, während er an "Dantons Tod" | |
| schrieb. Danton war gewissermaßen der Hauptrevolutionär, und dass die | |
| Revolution - was für eine Welle! - ihre Kinder frisst, wissen wir auch seit | |
| Büchner. | |
| Neben mir saß Klaus Maria Brandauer. Wahrscheinlich wollte er vollkommen | |
| unerkannt ins Theater; er trug noch im Zuschauerraum einen dicken schwarzen | |
| Wollschal und eine Pudelmütze, dazu eine Siebziger-Jahre-Brille der | |
| aberwitzigsten Form. Die ganze Erscheinung fiel unters Vermummungsverbot, | |
| niemand konnte mehr auffallen als er. Wahrscheinlich wollte Brandauer | |
| nachsehen, wie man seinen Danton noch spielen konnte. Denn vor über zwanzig | |
| Jahren war er Danton, ein großartiger, in einem großartigen | |
| gesamteuropäischen Fernsehfilm. | |
| ## Durch Gewohnheit gestützte Illusion | |
| Die Bühne hob in ihren aberwitzigen Winkeln und Perspektiven die Regeln der | |
| Schwerkraft auf und setzte einfach neue. Das bestärkte das schwankende | |
| Jahresanfangsgefühl, dass der feste Boden unter unseren Füßen vielleicht | |
| nur eine durch Gewohnheit gestützte Illusion ist. | |
| Und wie schnell lassen sich Folgerichtigkeiten durch neue | |
| Folgerichtigkeiten ersetzen: "Die Schritte der Menschen sind langsam, man | |
| kann sie nur nach Jahrhunderten zählen. Ist es denn nicht verständlich, | |
| dass zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr | |
| Menschen außer Atem kommen?" So klingt die Introduktion zur großen | |
| Massenmörderei, zur Revolution als dem blutigen Reinigungsbad des Humanen, | |
| das vor Danton, dem größten aller Revolutionäre, nicht haltmachen würde. | |
| Und Robespierre, der zweitgrößte Revolutionär, der Tugendterrorist, stimmt | |
| zu: "Aber nichts soll mich aufhalten, und sollte auch Dantons Gefahr die | |
| meinige werden." Das sind Wellenlogiken, und was am meisten erschreckt, | |
| sind die Gesetzmäßigkeit ihrer Wiederkehr (in der russischen Revolution!) | |
| sowie die Zeiträume, bis solche Meere wieder zur Ruhe gelangen. | |
| Als der große Terror begann, war die Französische Revolution immerhin schon | |
| drei Jahre alt. Die arabische Revolution feierte soeben ihren ersten | |
| Geburtstag, und die Islamisten sind gewiss nicht ihr letztes Wort. Aber | |
| niemand kann absehen, wo sie einmal ihr Bett finden wird. | |
| Und was, bitte, mag man fragen, hat das alles mit Wulff zu tun? In dem | |
| Augenblick, als Ludwig XVI. die von ihm miterfundene Guillotine | |
| ausprobieren musste, begann die Kopflosigkeit an den Spitzen der | |
| europäischen Nationen. Insofern ist der Bundespräsident ein moderner | |
| Nachfahre Ludwigs, ein Kompromiss, König und doch nicht König. Es gab | |
| gewiss miserablere Könige als Christian Wulff, und sie wurden dennoch | |
| geschont - als wie immer auch unvollkommene Inkarnationen einer | |
| Vollkommenheit. In ihnen ehrt man mehr als sie selbst, nicht zuletzt das | |
| Amt. | |
| ## Danton hat ein schönes Haus | |
| "Danton hat ein schönes Haus, Danton hat eine schöne Frau. Danton war arm | |
| wie ihr. Woher hat er das alles? Nieder mit Danton!" Die öffentlich | |
| Meinenden klingen dieser Tage oft wie das wankelmütige Volk aus Büchners | |
| Stück. Er selbst besitze keine Freunde, die ihm mal eben 500.000 Euro | |
| leihen könnten, klagte ein nicht ganz unbekannter Journalist im | |
| Deutschlandfunk. Und hatte die öffentlich-rechtliche Zwiesprache Wulffs mit | |
| Deppendorf und Schausten nicht Züge eines Tribunals? | |
| Brandauers Beifall am Ende von "Dantons Tod" war leise und tief | |
| nachdenklich. Vielleicht weil er keinen Danton gesehen hatte, nichts von | |
| diesem geistundgenusssüchtigen Revolutionsvieh, das er selbst war, nur | |
| einen jungen Recken mit hilflos schicksalsoffenen Armen. | |
| Es gibt - Peymann ist schuld - keinen richtigen Danton mehr, es gibt auch - | |
| Angela Merkel ist wohl schuld - keinen richtigen Bundespräsidenten mehr. | |
| Denn der durfte sie nicht überragen. Und nun lassen wir ihn seine | |
| Mittelmäßigkeit büßen. Und die Medien genießen es, nicht nur Wellen zu | |
| machen, sondern Welle zu sein, absolut in ihrem Überschwang. In ihrer | |
| Wucht, Könige zu machen, Könige zu stürzen? Auch die Mediokratie ist eine | |
| Gefährdung der Demokratie. | |
| 12 Jan 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Kerstin Decker | |
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