# taz.de -- Schwarzpulver im Chemieunterricht: Kontrolletti-Obsessionen | |
> Ein Waldorf-Lehrer soll seine Schützlinge angeblich im Bombenbau | |
> unterwiesen haben. Die Staatsanwälte ermitteln. Vielleicht war es auch | |
> nur anschaulicher Unterricht. | |
Bild: Uuups... ganz schön explosiv: Schwarzpulver im Unterricht - Anschauliche… | |
"Unfassbar!" "Lebensgefährlich!" - Weil ein Lübecker Waldorf-Schullehrer | |
mit seinen Schülern Schwarzpulver gemischt und Sprengkörper gebaut haben | |
soll, ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen eines möglichen Verstoßes | |
gegen das Sprengmittelgesetz - und Eltern und Presse haben wieder einmal | |
einen guten Grund, sich zu echauffieren: Über den Lehrer und sein den | |
Eltern allzu anschauliches Experiment. Bomben. Waldorfschule. Diese | |
Kombination darf man witzig finden, zumal niemand verletzt wurde. | |
Der Anwalt des angeklagten Lehrers spricht lieber von "Böllern" denn von | |
Bomben. Die wurden laut Aussagen der Schüler in einem Wald nahe der Schule | |
mit Wunderkerzen gezündet. Die Schüler spürten die Druckwelle der Explosion | |
aus der Entfernung sogar. In der Tat aufregender Chemieunterricht in der | |
fünften Klasse, den ich meinem Kind von Herzen gegönnt hätte. Lehrreich, | |
wenn man bedenkt, dass jährlich um die Silvesterzeit Kinder sterben, weil | |
sie mit Böllern und Schwarzpulver spielen. | |
Da wäre doch Vertrauen in die Lehrkraft angebracht. Der Mann wird schon | |
wissen, was er tut, und ordentlich über Substanz und Wirkung des Pulvers | |
aufklären. "So haben Kanonen früher funktioniert." Oder: "So sieht ein | |
Böller von innen aus. Das ist gefährlich, also Obacht." Aber nein, wenn es | |
um den Nachwuchs geht, wissen Eltern alles besser und die Lehrer sind im | |
besten Fall ahnungslos, wenn nicht gar eine Gefahr für das Kind. | |
## Inkompetenz auf Kosten des Kindeswohls | |
Ständig wird mir von anderen Müttern, aber auch Vätern erzählt, warum sie | |
ihre Kinder ab jetzt auf eine Privatschule schicken. Diese Inkompetenz auf | |
Kosten des Kindeswohls könne einfach nicht länger toleriert werden. Und ob | |
die Kinder überhaupt etwas lernen, da haben besorgte Eltern so ihre Zweifel | |
- und die Methoden erst! Entweder zu lasch oder zu drakonisch. | |
Elternabende ziehen sich über Stunden, weil das Wohl und Weh eines | |
einzelnen Kindes uns alle anzugehen hat. Wegen Stören des Unterrichts | |
verwiesen? Unverschämtheit! Bei 30 Kindern in der Klasse muss es doch | |
möglich sein, sich um jedes Schäflein mit "Aufmerksamkeitsdefizit" zu | |
kümmern. | |
Keine Gymnasialempfehlung? Dann ist das eigene Kind eben ein Härtefall oder | |
das gesamte Bewertungssystem der Schule offenbar totaler Humbug. | |
Das Kind ist nicht zum Geburtstag eingeladen? Dann muss die Klassenlehrerin | |
mit dem Geburtstagskind wohl mal ein ernstes Wort reden, denn wenn das | |
nicht Mobbing ist, dann zumindest Ausgrenzung. | |
## "Mitarbeiter des Jahres" oder "gefährlichem Psychopath" | |
Spannende Experimente à la Zaubererschule Hogwarts? "Unfassbar!" | |
"Lebensgefährlich!" | |
Der Grad zwischen "Mitarbeiter des Jahres" und "gefährlichem Psychopath" | |
ist in keinem anderen Beruf so schmal wie bei Lehrern. Über ihre | |
Fähigkeiten darf jeder urteilen, und klar ist auch: Den Job macht jeder | |
Mensch mit Kindern besser. | |
Gerade Menschen aus Berufen, denen eher Ehrerbietung als ein Widerwort | |
zuteil wird (ProfessorInnen, ÄrztInnen), kritisieren gern am harschesten, | |
inklusive kruder Verbesserungsvorschläge für den Unterricht. | |
Was soll diese ständige Leistungs- und Verhaltenskontrolle der Lehrer? Ist | |
es so naiv, der Schule seiner Wahl auch mal zu vertrauen? Ist es | |
konstruktiv, dem Kind zu vermitteln, man halte seinen Lehrer für unfähig? | |
Und: Wo nehmen diese Leute eigentlich die Zeit für ihre | |
Kontrolletti-Obsessionen her? | |
## | |
## Einmischung braucht Grenzen | |
Klar: Eltern und Schüler sollen nicht jedes Lehrerverhalten hinnehmen. Aber | |
das ständige Einmischen braucht Grenzen. | |
Denn Lehrer müssen die Interessen der Schüler aufgreifen. Mitunter die | |
einzige Möglichkeit, sie überhaupt für ein Thema zu begeistern. Wenn mein | |
Kind von Böllern fasziniert ist, bin ich froh, wenn es damit vertraut | |
gemacht wird, bevor es sich die Hand zerfetzt. | |
Für mich könnte der Unterricht gerne noch weitergehen: Denn wenn | |
Jugendliche Drogen nehmen wollen, werden sie das tun, genauso wie sie Sex | |
haben werden, wenn sie es wollen. Ich wäre froh, wenn die Kids im | |
Unterricht gelernt hätten, wie sich Antibabypille, Ecstasy oder Speed | |
zusammensetzen und welche Mischung fatal ist. Ich selbst kann es ihnen | |
nicht zeigen, ich weiß es nämlich nicht. | |
12 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Julia Niemann | |
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