| # taz.de -- Roadmovie mit Umwegen: Konzentriert an der Sache vorbei | |
| > Auf der Suche nach der Leiche: Nuri Bilge Ceylans Film "Once Upon a Time | |
| > in Anatolia" sieht manchmal aus wie ein Krimi und läuft am Ende einfach | |
| > weiter. | |
| Bild: Wo die Leiche ist, weiß der Täter nicht mehr. So ist die Polizei zum He… | |
| Drei Autos fahren durch die Nacht, gesucht wird ein Toter. Sein Mörder und | |
| ein Komplize, zwei Brüder, sind bereits gefasst und geständig. Was fehlt, | |
| ist das Motiv, der Leichnam, die letzte Evidenz. | |
| Eine Investigation in tiefer Dunkelheit: Die Täter finden den Tatort nicht, | |
| der Staat macht die Scheinwerfer an. Ein Staatsanwalt, ein Arzt, Polizisten | |
| unterschiedlicher Dienstgrade, die sich über Büffelmilchjoghurt und | |
| Probleme mit der Prostata unterhalten. Sie sollen die Wahrheit ans Licht | |
| bringen, den Toten einer finalen Untersuchung zuführen. Wenn die Sprache | |
| als klärendes Medium an ihre Grenzen stößt, hilft nur noch forensische | |
| Obduktion. Nicht alles, was sichtbar ist, ist auch sagbar. | |
| Nuri Bilge Ceylans "Once Upon a Time in Anatolia" ist ein epistemologisches | |
| Roadmovie, das aus Aufklärungsumwegen besteht, die je eigene Erkenntnisse | |
| produzieren. Die kriminalistische Recherche verzweigt sich dabei | |
| unaufhörlich, wird zwischendurch zur Nebensache und dann doch wieder | |
| eminent. Als im Morgengrauen die Leiche gefunden ist, geht der Film, der | |
| hier nach gut neunzig Minuten zu einem runden Ende gebracht sein könnte, | |
| einfach weiter, wartet so lange, bis die Wahrheit wieder zweifelhaft | |
| geworden ist. | |
| Das Motiv wird schließlich so beiläufig freilegt, dass seine generische | |
| Trivialität dennoch wie ein unbegreifliches Menschheitsrätsel im Raum | |
| stehen bleibt. | |
| ## Eigenwillige Komik | |
| Enorm schwer auszurechnen ist dieser fabelhaft entformatierte Film, | |
| eigenwillig offen für Abschweifungen auch ins Komische. Eine Poetik der | |
| Digression, die in kein Schema passt, nie zur Parabel vereindeutigt wird. | |
| Die labyrinthartige Struktur verdankt sich einer dramaturgischen | |
| Architektur, die ständig Tonfallwechsel und neue Ungewissheiten | |
| hervorbringt. | |
| Oft wird nicht zur Sache gesprochen, sondern konzentriert daran vorbei. | |
| Jeder ist mit sich selbst beschäftigt in dieser Nacht, folgt seinen | |
| individuellen Wahrnehmungen und Erinnerungsschüben, fühlt sich verfolgt von | |
| seinen eigenen Toten, dem Nichtgelebten. Das alles wirkt nicht forciert, | |
| auch wenn die bühnenhafte Leere der osttürkischen Steppenlandschaft jede | |
| Geste größer und dezidierter gesetzt erscheinen lässt. | |
| Die Positionen, die die Kamera gegenüber dem Geschehen einnimmt, bleiben | |
| stets als markierte wahrnehmbar und wirken dennoch spontan. Formstrenge und | |
| freies Formenspiel gehen hier zusammen, wie lange nicht mehr im | |
| Autorenkino. | |
| Auf den Genre-Bahnen einer Recherchebewegung wird man in diesen Film | |
| gesogen und landet dann doch immer wieder an den Peripherien des | |
| Aufklärbaren. Auch jenseits der schließlich offengelegten Beziehung | |
| zwischen Täter und Opfer sind es vor allem die Relationen der Figuren | |
| untereinander, in die man als Zuschauer hartnäckig Verstehensbemühungen | |
| investiert. | |
| ## Märchenhafte Geschehnisse | |
| Unwahrscheinlichkeit und Faktizität gehen in Ceylans speziellem "Es war | |
| einmal" eigentümlich stabile Verbindungen ein. Märchenhaft wird es aber nur | |
| einmal. Der behördliche Aufklärungsapparat macht Halt in einem Dorf, dessen | |
| Vorsteher die Gelegenheit nutzt, um das Fehlen einer klimatisierten | |
| Leichenhalle zu beklagen. | |
| Die aufgebahrten Toten müssen aber doch konserviert werden, ansehnlich | |
| bleiben für den Blick der Lebenden, der Verwandten, die schon länger nicht | |
| mehr in der anatolischen Provinz zu Hause sind, sondern in den europäischen | |
| Zentren. Die Anreise nimmt Zeit in Anspruch, die die Toten nicht mehr | |
| haben, weil ihre sterblichen Reste durch die Hitze ihre äußere Form | |
| verlieren. So können sie nicht wiedererkannt, nicht verabschiedet werden. | |
| Der Dorfvorsteher stößt auf das Verständnis seiner Gäste, dann geht auf | |
| einen Schlag das Licht aus. Wieder sitzen sie im Dunkeln und wissen nichts. | |
| Eine Epiphanie bereitet ihnen ein Erlösungsmoment. | |
| Schön wie ein Bild ist die Tochter des Gastgebers, die eine Öllampe | |
| entzündet und Gast für Gast abschreitet, um Tee zu servieren. Ungläubig | |
| blicken die Männer, einer nach dem anderem, zu dieser Erscheinung auf. Der | |
| Mörder fragt seinen Bruder, ob er schon tot sei. | |
| 19 Jan 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Simon Rothöhler | |
| ## TAGS | |
| Kino | |
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