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# taz.de -- die wahrheit: Ein Herz für Triebwerke
> Wir müssen lange klingeln, bis uns Karl-Heinz Wiesenkötter endlich die
> Pforte zu seinem verklinkerten Reihenhaus öffnet. Ist es die
> Schwerhörigkeit? ...
Bild: Wenn so ein Jet den Dachfirst fast ankratzt, ist das Leben erst lebenswer…
... "Entschuldigen Sie bitte", sagt der sympathische 58-Jährige mit der
runden Brille auf der Nase lächelnd, "aber ich war gerade im Garten." Wir
folgen dem pensionierten Lehrer und angehenden Lyriker vorbei an den
Buchsbaumhecken zum Ufer eines kleinen Gartenteiches.
"Sehen Sie das?", fragt der Hausherr begeistert und deutet auf die
Wasseroberfläche. Kaulquappen? Koi-Karpfen? Wiesenkötter schüttelt den
Kopf: "Nein, die Schlieren! Sehen Sie nicht diese Schlieren?" Tatsächlich
schillert das Wasser ganz zart in allen Farben des Regenbogens: "Das ist
Kerosin!", bestätigt Wiesenkötter unseren Verdacht, wobei er "Kerosin" so
weihevoll ausspricht wie ein Bienenzüchter das Wort "Gelée royale".
Karl-Heinz Wiesenkötter ist Fluglärmbefürworter - eine ausgegrenzte
Minderheit in und um Frankfurt am Main, wo im Oktober vergangenen Jahres
die neue Landebahn Nordwest in Betrieb genommen wurde.
Wiesenkötter stammt aus dem Sauerland, einem denkbar ruhigen Landstrich. Zu
ruhig für den agilen Rentner: "Ich habe gezielt nach einem kleinen Haus in
Niederursel, Heddernheim, Eschersheim oder Berkersheim gesucht - und bin
fast überall fündig geworden", staunt Wiesenkötter und sagt kopfschüttelnd:
"Die Leute wollen hier um jeden Preis wegziehen. Dieses Haus - zwei
Stockwerke, 120 Quadratmeter, großer Garten - habe ich für 250 Euro
erwerben können." Allerdings war noch viel zu tun, so musste er etwa die
Lärmschutzfenster auf eigene Kosten gegen solche mit Einfachverglasung
austauschen und die Dämmung im Dach ausbauen. "Sonst hätte das ja gar
keinen Sinn", sagt Wiesenkötter, serviert einen heißen Tee, stellt einen
zweiten Gartenstuhl unter den Heizpilz - und erzählt. Im Sauerland höre man
immer nur die Vögel zwitschern und die Kirchenglocken läuten, das habe er
nicht mehr ausgehalten. Seine Frau habe sich mit Händen und Füßen gewehrt,
aber schließlich - ihm zuliebe - doch nachgegeben. Einmal in der Woche
besucht er sie in der Nervenheilanstalt, in die sie nach wenigen Monaten
eingeliefert werden musste.
"Fluglärmgegner haben politisch eine enorme Macht", räumt er zerknirscht
ein: "Sie reden immer nur von der Nachtruhe, von ihren Kindern, von der
gesundheitlichen Belastung, sie reden und reden und reden - anstatt einfach
mal zuzuhören." Deshalb hat Wiesenkötter einen Gegenverein gegründet:
"Fluglärmbefürworter e. V." vereint Menschen, die gegen den Strom
schwimmen, dem Diktat der Mehrheit misstrauen. Vier Mitglieder gibt es
schon, Taubstumme, Metal-Fans, Masochisten, alles dabei, ein Querschnitt
durch die Bevölkerung.
"Da!", ruft er plötzlich und erstarrt mit offenem Mund. Noch hört man nur
das monotone Rauschen von der benachbarten Autobahn, fast zaghaft erhebt
sich ein fernes Pfeifen in den tristgrauen Wolken, das bald orkanartig
anschwillt. Hell klingelt der Löffel in der Teetasse, als der unsichtbare
Koloss direkt über uns ist. In das dumpfe Wüten und eine sonore Schleppe
aus Druckwellen hinein brüllt Wiesenkötter mit glänzenden Augen: "Das war
die Morgenmaschine aus Detroit! Den sollten Sie mal starten hören!
Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol pur! Gut fürs Herz! Und das Beste: So
geht das durchschnittlich 640 Mal am Tag!" Als es unlängst einmal nur 621
Maschinen waren, beschwerte sich Wiesenkötter prompt beim
Flughafenbetreiber Fraport: "Die sind total nett, haben sofort reagiert und
sich entschuldigt! Trotzdem: Wenn das nochmal vorkommt, verlange ich eine
Entschädigung."
Ein Dorn im Ohr ist ihm auch die Beschränkung des Flugbetriebs. Zwischen 23
und 5 Uhr dürfen keine Flugzeuge starten oder landen, Wiesenkötter hat
dagegen vor dem Verwaltungsgerichtshof in Kassel geklagt. Inzwischen kann
er die Triebwerke an ihrem Klang unterscheiden, dem "Geheul der
Globalisierung" widmet er seine Gedichte. Wie bestellt folgt eine Boeing
747 aus Singapur, für Sekunden lässt sich ein Fahrwerk erspähen,
ausgefahren wie Krallen eines Adlers. Durch die Turbulenzen werden vom Dach
ein paar Schindeln abgedeckt und zersplittern klirrend auf der Terrasse.
Wiesenkötter aber nestelt nur nach seiner Lesebrille, zückt den
Füllfederhalter und schreibt weiter an der "Ode an den Fortschritt", seinem
jüngsten Gedicht: "Lauschen könnt ich tagelang / Deiner Stimme mächtgem
Klang / Stillstand? Ruhe? Hab ich satt / Bitte komm und mach mich platt!"
21 Jan 2012
## AUTOREN
Arno Frank
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