# taz.de -- Debatte Wulff: Costa Germania | |
> Christian Wulff repräsentiert den Teil der Bevölkerung, der das | |
> Gemeinwesen als Schnäppchenmarkt begreift. Mit absehbaren Folgen. | |
Bild: Viele deutsche Kommentatoren fordern von Wulff, das Schiff zu verlassen. | |
"Vada a bordo, cazzo!" In Italien gibt es jetzt schon T-Shirts mit dem | |
Spruch. Der grobe Befehl des Hafenkommandanten von Livorno an den Kapitän | |
der "Costa Concordia", auf sein Schiff zurückzukehren, ist zur Chiffre der | |
Verhältnisse geworden. Und auch viele deutsche Kommentatoren konnten der | |
Versuchung nicht widerstehen, mehr oder weniger deutlich Richtung Schloss | |
Bellevue zu rufen: ,Gehen Sie von Bord, Scheiße noch mal!' | |
Aber halt! Ist das nicht geschmacklos, jedenfalls unangemessen? Gewiss. | |
Denn Christian Wulff steht in keiner Weise im Verdacht, Menschenleben auf | |
dem Gewissen zu haben. Das Problem ist: Wenn jemand wie Wulff wusste, dass | |
ihn seine Art, öffentliche Ämter und Privatangelegenheiten zu vermischen, | |
zumindest angreifbar macht, und er aber trotzdem sich zum Bundespräsidenten | |
wählen ließ, dann sagt er uns, dass es ungeschriebene Regeln des Anstands | |
nicht mehr gibt. | |
"Was sich da alles selbst verwirklicht", hieß ein zu gewisser Berühmtheit | |
gelangter Leitartikel von Ex-FAZ-Herausgeber Johann Georg Reißmüller. 1993 | |
erschienen und gegen alle Übel der modernen Welt gerichtet, liest er sich | |
heute eher als Elitenkritik: "Wer in der Stadt und in der Landschaft, in | |
der er lebt, seinen Augen und Ohren kein Wahrnehmungsverbot erteilt und | |
seinem Gedächtnis nicht progressiven Schwund gebietet, der bemerkt vieles | |
Auffällige, worüber die Maßgeblichen in ihren Reden in unserem Land nicht | |
sprechen: […] Daß Leute aller Schichten sofort pöbelhaft herumschreien, | |
wenn etwas nicht nach ihrem Willen geht. Daß bald jeder gegen irgend | |
jemanden wegen irgend etwas bis zur Erschöpfung des Instanzenweges des | |
Gegners und seiner selbst prozessiert und, wenn er dabei nicht zum Ziel | |
kommt, dem Staat die Rechtlichkeit abspricht. […] Wer solche Erfahrungen | |
überdenkt und zusammenfügt, [...] der fängt an zu überlegen, ob der | |
Bevölkerung und dem Staat nicht Kurskorrekturen guttäten und an vielen | |
Plätzen andere Politiker." | |
## Persönliche Würde? Passé | |
Einerseits also sieht es so aus, als sei heute alles erlaubt: Von Bord | |
gehen, obwohl man Verantwortung für tausende Menschen trägt, an Bord | |
bleiben, obwohl das sehr viele, die diesen Staat noch als ihren Staat | |
begreifen - und mit dem NSU-Verfassungsschutz-Komplex sind es wieder ein | |
paar weniger geworden -, empört. | |
Diese Empörung hat aber einen Haken. Sie fokussiert sich auf den Staat und | |
seine Organe, weil andere Institutionen sich längst jedem Zugriff entzogen | |
haben und Konsequenzen hartleibig verweigern - von der katholischen Kirche | |
und ihrem Missbrauchsskandal bis zu den Finanzmärkten und der globalen | |
Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums. | |
Man muss nur die Karriere-Seiten der SZ lesen, um zu konstatieren, dass die | |
Idee der persönlichen Würde für die meisten Arbeitnehmer kein praktikables | |
Konzept mehr ist. Denn der hier folgende Auszug aus dem SZ-Bewerbungsknigge | |
ist ja nicht satirisch gemeint , sondern schweißtriefender Ernst: | |
"Wer noch einmal die Toilette vor dem Gespräch aufsuchen möchte, kann auch | |
das tun - unter einer Voraussetzung: Unbedingt fragen: ,Wo finde ich die | |
Waschräume?' oder ,Wo kann ich mir die Hände waschen?' Wenn schließlich der | |
Personaler den Raum betritt, hier lauert schon die nächste Fehlerquelle: | |
Der Bewerber sollte sich ihm vorstellen, etwa mit ,Guten Tag, darf ich mich | |
vorstellen, ich bin …'. Aber auf keinen Fall darf er ihm die Hand | |
entgegenstrecken. Das macht immer der Ranghöhere. Auch das Sitzen will | |
richtig gemacht sein: Mittig und ganz auf dem Stuhl sitzen und den | |
Oberkörper nicht so schmal machen, Männer stellen die Beine nebeneinander, | |
Frauen dürfen sie überschlagen, müssen aber aufpassen: Dann wirken sie | |
schnell schmal im Unterkörper und sollten ihren Oberkörper optisch | |
verbreitern, etwa, indem sie die Ellbogen auf die Armlehnen legen." | |
Nicht rülpsen, am Morgen duschen und ein gefrorenes Lächeln im Gesicht. | |
Wenn Sie den Job dann haben, können Sie machen, was Sie wollen - | |
vorausgesetzt, Sie lassen sich nicht erwischen, haben bei Entlassung oder | |
Rücktritt genug "fuck you money" zusammengerafft oder Sie haben die Statur, | |
die Sache auszusitzen - eingedenk der geflügelten Wort Christian Wulffs | |
(und anderer vor ihm): In einem Jahr ist eh alles vergessen. | |
## Mimikry guten Benehmens | |
Es ist die Mimikry des guten Benehmens, die zur Mimikry der | |
Pflichterfüllung führt. Dass die Kinder in Schloss Bellevue nun Bobbycar | |
fahren dürfen, ist hübsch. Falls ihnen Hausherr oder Dame dabei spielerisch | |
Verkehrsregeln beibringen wollten, wird es schon kompliziert. Bei Rot | |
stehen, bei Grün gehen? Na ja, kommt darauf an, wer zusieht. Und wenn man | |
jemanden überfährt, entschuldigt man sich halt, was schon deswegen absurd | |
ist, weil man sich nicht selbst entschuldigen kann, sondern Verzeihung | |
gewährt bekommen muss. | |
Das geschieht im Fall von Politikern idealerweise durch Wahlen des | |
Souveräns. In Italien hat Berlusconi sich immer darauf berufen: Was mir | |
Opposition, Justiz und Intellektuelle auch ankreiden - ich bin demokratisch | |
gewählt. Und das Volk soll entscheiden, ob es mich für ungeeignet hält, es | |
zu repräsentieren. Diese Art des ausschließlichen Dialogs zwischen | |
Herrscher und Volk nannte man mal Bonapartismus, heute spricht man von | |
Populismus. | |
Der Fall Wulff weist daraufhin, dass die Gesellschaft grundlegend gespalten | |
ist. Wer an Wulff festhält, betrachtet das Gemeinwesen als Kreuzfahrtschiff | |
und den Präsidenten als dessen Kapitän: Es ist klar, das das ganze als | |
Betrug angelegt ist. Man muss halt sehen, dass das Schnäppchen ein | |
Schnäppchen bleibt. | |
Und wer Wulffs Rückritt fordert? Der findet sich heute auf | |
existenzialistischere Lebensziele - weniger staatsfeindliche als | |
staatsferne - zurückgeworfen. Mit dem im letzten Jahr verstorbenen | |
Schriftsteller Peter O. Chotjewitz gesprochen: "Wenn es dir gelingt, die | |
Pensionsgrenze zu erreichen, ohne zu arbeiten, anderen in den Hintern zu | |
kriechen und billigen Wermut zu trinken, dann wird das Schicksal es gut mit | |
dir gemeint haben." Aber wer, verdammt noch mal, übernimmt das Amt des | |
Hafenkommandanten? | |
22 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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