# taz.de -- Interview zur Urbanen Landwirtschaft: "Gewächshäuser und Dachgär… | |
> Berlin könnte viel mehr Obst und Gemüse direkt in der Stadt ernten, sagt | |
> der Forscher Axel Dierich. Doch der Senat zeige zu wenig Engagement | |
Bild: Schmeckt am besten frisch aus dem Garten | |
taz: Herr Dierich, Sie forschen zu urbaner Landwirtschaft. Warum muss man | |
ein Hobby gelangweilter Großstädter erforschen? | |
Axel Dierich: Ha! Weil Landwirtschaft in der Stadt noch nicht die | |
Potenziale ausschöpft, die sie definitiv besitzt. Bislang ist das | |
tatsächlich eher eine Freizeitbeschäftigung. Aber langsam besetzt urbane | |
Landwirtschaft eine Marktlücke. | |
Inwiefern? | |
Menschen mieten ein Beet oder übernehmen eine Patenschaft dafür. Die Ernte | |
können sie mit nach Hause nehmen. Diese Stadtgärtner kaufen dann weniger | |
Gemüse im Supermarkt ein. In Westend etwa gibt es ein Gewächshaus für | |
seltene Kräuter. Dort wird für gehobenere Restaurants und Hotels | |
eingekauft. Und in New York oder Montreal haben Unternehmer auf Hausdächern | |
große Äcker und Gewächshäuser angelegt, mit deren Ernte sie ihre Kunden | |
beliefern. | |
Dann versorgen wir Städter uns in Zukunft also von Feldern auf unseren | |
Dächern? | |
Nicht nur. Erst mal verlangt der Klimaschutz, dass wir uns möglichst | |
saisonal und regional versorgen - also aus dem städtischen Umland. Aber | |
weltweit gehen immer mehr Flächen durch Erosion und Versalzung verloren, | |
oder sie werden für Energiepflanzen umgewidmet. Darum muss in der Stadt das | |
Ziel sein, die Symbiosen mit Gebäuden zu nutzen: Mit der Wärme, die ein | |
Haus ausstrahlt, können wir Gewächshäuser beheizen. Etwa mit der | |
Heizungsluft, die durch das Dach diffundiert, oder mit der heißen Luft aus | |
Klimaanlagen, die wir im Moment meist als Abgase in die Atmosphäre blasen. | |
Außerdem haben wir in der Stadt Wasser, Energie und Nährstoffe - so viel, | |
dass wir gar nicht wissen, wohin damit. | |
Wasser, Energie und Nährstoffe im Überfluss? Wo denn bitte? | |
In den Klärwerken. Die sind nur damit beschäftigt, diese Nährstoffe | |
abzubauen. Eine dezentrale Aufbereitung könnte der Bewässerung städtischer | |
Gemüseproduktion dienen. Das wäre ein enormer Effizienzgewinn in der | |
Nutzung von Ressourcen. | |
Braucht jedes Haus seine eigene Kläranlage? | |
Es gibt heute jedenfalls technische Lösungen dafür. In den Achtzigern haben | |
das schon mal Leute an der Rückfassade eines Hauses in Kreuzberg versucht. | |
Nach drei Jahren haben sie es wieder abgebaut, weil es nicht funktioniert | |
hat - es muss ziemlich gestunken haben. Aber heute gibt es sehr kleine und | |
kompakte Kläranlagen, die man lokal einbauen kann. Die Herausforderung | |
besteht darin, die Wasserströme im Haus zu trennen und dann etwa das Wasser | |
aus Duschen und Waschmaschinen in unterirdischen Behältern zu klären, um es | |
vor Ort weiterzuverwenden. | |
Es wird teuer, die ganze Stadt so umzurüsten. | |
Natürlich. Aber diese Möglichkeiten ließen sich etwa gut bei Neubauten oder | |
Sanierungen nutzen. Viele Leute hier in der Stadt arbeiten an der | |
Realisierung ihrer Ideen. Es gibt etwa die, vor die riesige Brandmauer | |
eines Gebäudes ein Gewächshaus zu setzen: 2 Meter tief, 10 Meter breit, 20 | |
Meter hoch, mit mehreren Etagen voller Regale mit Tomaten- oder | |
Erdbeerpflanzen und Bewässerungssystem. In dem Gewächshaus könnte es auch | |
einen Paternoster geben. | |
Einen Paternoster? | |
Ja, einen Fahrstuhl, in dem Erdbeerpflanzen senkrecht rotieren: Man pflanzt | |
sie unten, dann gehen sie auf Tour und kommen zwei, drei Monate später | |
gereift wieder unten an. | |
Hat die Berliner Politik eine Vorstellungen davon, was mit urbaner | |
Landwirtschaft möglich ist? | |
Der Senat hat vergangenen Sommer eine sogenannte Stadtlandschaftsstrategie | |
verabschiedet, das ist das erste Dokument zu produktivem Grün in der Stadt. | |
Gemeint sind damit aber in erster Linie Sport- und Freizeitflächen. Urbane | |
Landwirtschaft kommt auch vor, nicht aber in dieser gebäudegebundenen Form, | |
von der ich sprach. Dabei kann das ein wichtiger Wirtschaftszweig für jede | |
Stadt werden, insbesondere für Berlin. | |
Warum für Berlin? | |
Weil wir hier sehr viele Flachdächer haben, ebenso wie leer stehende | |
Gebäude und großflächige Brandwände. Das zu nutzen kann auch Geld bringen. | |
Notwendig wäre also Wirtschaftsförderung durch den Senat. | |
Und dann bepflanzen wir alle Dächer und das gesamte Tempelhofer Feld? | |
Auf keinen Fall wollen wir Tempelhof komplett besäen. Überhaupt soll | |
kommerzieller Anbau keinesfalls andere Nutzungen von den Freiflächen der | |
Stadt verdrängen. Auf dem Tempelhofer Feld gibt es jetzt das | |
Allmende-Kontor mit lauter kleinen Beeten, so etwas hat für Berliner | |
tausendmal mehr Freizeitwert als ein großer Gemüseacker oder jeder | |
künstlich angelegte Park. Aber die alten Abflughallen könnte man mit | |
Gewächshäusern und Dachgärten besiedeln. | |
Wohin stellen wir denn all die Solarkollektoren für die Stromerzeugung, | |
wenn auf den Dächern Obst wächst? | |
Da gibt es bereits technologische Entwicklungen: transparente Solarzellen, | |
die zugleich zur Stromerzeugung und als Dach dienen können. In weniger als | |
zehn Jahren sollten die marktfähig sein. | |
Kann sich Berlin irgendwann einmal aus sich selbst heraus mit Nahrung | |
versorgen? | |
Eher nicht, aber man kann große Anteile gewisser Lebensmittel hier | |
produzieren: 20, 30 Prozent vielleicht in manchen Bereichen. Das geht bei | |
allem, was man mit hohem Produktivitätsgrad auf engstem Raum herstellen | |
kann - Tomaten und Erdbeeren etwa. Das passt dann auch zu den | |
Vermarktungsstrukturen der Zukunft, wie sie momentan etwa die Malzfabrik | |
mit ihrer Dachfarm plant: Viel mehr wird künftig über Direktmarketing | |
laufen, viel weniger über Verteilerzentren und Großmärkte. Bei steigenden | |
Energie- und Spritkosten sind diese ganzen Lkw-Fahrten für den weiten | |
Transport von Lebensmitteln nicht mehr konkurrenzfähig. | |
Aber die lokal produzierten, saisonalen, guten Lebensmittel können sich nur | |
gut Verdienende leisten. Dieses Problem kann doch auch die urbane | |
Landwirtschaft nicht lösen. | |
Doch. Wenn man armen Menschen Freiflächen zur Verfügung stellt, können sie | |
dort ihr Gemüse selbst anbauen. Dazu braucht es aber Bildungsangebote, denn | |
heute wissen viele Menschen nicht mehr, woher die Tomatensauce auf ihrer | |
Pizza kommt. Doch schon heute ist die Annahme, urbane Landwirtschaft wäre | |
eine Sache der reichen Mittel- und Oberschicht, falsch. Wenn man sich etwa | |
die Struktur der Nutzer der Prinzessinnengärten in Kreuzberg ansieht, dann | |
sind das Studenten, Arbeitslose, Punks, Senioren, Menschen mit | |
Migrationshintergrund - eben Leute aus der Nachbarschaft. | |
28 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Puschner | |
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Obst | |
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