# taz.de -- „Urban Farming“ auf Hochhäusern: Tomaten vom Dach | |
> Auf Flachdächern angelegte Plantagen und Gemüsegärten könnten zum Anbau | |
> von Lebensmitteln eingesetzt werden. Wärme und Abwässer ließen sich | |
> sinnvoll nutzten. | |
Bild: Vorzeigeprojekt in Berlin: Urban Gardening im Prinzessinnengarten. | |
NEUSS taz | Die Idee klingt bestechend. Was wäre, wenn die Betonwüsten der | |
Metropolen dieser Welt in Wirklichkeit Brachland wären, das in absehbarer | |
Zeit Anbaufläche für Nahrungsmittel werden könnte? Wissenschaftler am | |
Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (UMSICHT) | |
in Oberhausen beschäftigen sich seit Kurzem mit der Frage, ob der Anbau von | |
Nutzpflanzen in Gewächshäusern auf Flachdächern ökonomisch und ökologisch | |
sinnvoll ist. | |
Auf dem Dach des Fraunhofer-inHaus-Zentrums in Duisburg soll deshalb | |
demnächst ein 300 Quadratmeter großes Versuchslabor errichtet werden. In | |
einer Region, in der ehemals die Montanindustrie dominierte, werden also | |
bald im Dienst der Wissenschaft Gurken und Tomaten wachsen. | |
Dabei geht es den Forschern aus Oberhausen nicht nur um die Sonnenenergie, | |
die auf geteerten Flachdächern ansonsten ungenutzt bleibt. Ein Wohnhaus | |
verfügt über ideale Quellen, um Pflanzen wachsen zu lassen. Es gibt | |
reichlich Abwasser, um Obst und Gemüse zu versorgen. | |
Die Abwärme des Hauses und zusätzliche Solarmodule können die Gewächshäuser | |
mit Energie versorgen. Würden die meisten infrage kommenden Flachdächer in | |
Deutschland genutzt werden, so erste Berechnungen von UMSICHT, könnten bis | |
zu 28 Millionen Tonnen CO2 in der Atmosphäre gebunden werden. | |
## Lange Transportwege würden wegfallen | |
Zum Vergleich: die Industrie unseres Landes emittiert rund 35 Millionen | |
Tonnen im Jahr. Allerdings würde sich der Standort auch in anderer Hinsicht | |
positiv auf das Klima auswirken. Lange Transportwege vom Erzeuger zum | |
Konsumenten würden wegfallen. Keine Tomate müsste im Winter mit dem | |
Lastwagen quer durch Europa gefahren werden. | |
Sie könnte bestenfalls auf dem Dach des Supermarktes gedeihen, in dem sie | |
auch verkauft wird. Ein anderes Argument mag den Einzelhandel | |
interessieren. Durch die Minimierung des Transportweges bleiben | |
Lebensmittel länger frisch und somit auch länger vermarktbar. Erntefrische | |
Agrarprodukte sind außerdem sehr viel vitaminreicher. | |
Aber auch andere Vorteile gegenüber den Agrarfabriken in Holland und | |
Spanien machen die Forscher vom Fraunhofer-Institut aus. Während | |
konventionelle Landwirtschaft über zwei Drittel des verfügbaren | |
Trinkwassers verbraucht, können die Gewächshäuser auf Dächern mit Abwasser | |
betrieben werden. | |
Diese Technik ist übrigens nicht neu. Bereits vor hundert Jahren nutzte man | |
die Abwässer der Städte, um Pflanzungen zu düngen. Damals nannte man die | |
Technik Rieselfelder. Die Kloake der Metropolen wurde auf | |
landwirtschaftliche Flächen geleitet und garantierte gute Erträge. | |
## Aufwendige Filtertechnik | |
In Zeiten von Giftskandalen und Pandemien dürfte sich ein solches Verfahren | |
zwar eigentlich verbieten. Aufwendige Filtertechnik allerdings, so Volkmar | |
Keuter, Bioverfahrensingenieur und Maschinenbauer bei UMSICHT, schließt | |
aus, dass Bakterien, Viren oder Schadstoffe aus den Abwässern der Häuser | |
auf die Anbauflächen gelangen. | |
Wertvolle Mineralien hingegen wie zum Beispiel Phosphorverbindungen, die in | |
vielen Ländern noch ungeklärt in Flüsse und Meere gelangen und dort | |
schädlich seien, könnten so sinnvoll genutzt werden. Der Anbau der Pflanzen | |
ist übrigens genauso ungewöhnlich wie deren Standort. Dächer können | |
konstruktionsbedingt oft keine schweren Lasten tragen. | |
Deshalb wachsen Obst- und Gemüsepflanzen dort auch nicht in der Erde. Die | |
Wurzeln stecken vielmehr in Mineralwolle oder in Tonkügelchen. Bei manchen | |
Modellen hängen sie sogar frei in der Luft und werden nur über einen | |
Sprühnebel versorgt. Die Nutzpflanzen benötigen nur einen dünnen Wasserfilm | |
auf den Wurzeln, versichert Volkmar Keuter. Der Ertrag dieser Technologie | |
sei bis zu zehn Mal höher als beim konventionellen Anbau. | |
In Europa ist das Projekt noch in der Planungsphase. In den USA hingegen | |
sind bereits Dächer ergrünt. In Brooklyn wachsen auf 1.500 Quadratmeter | |
Salatpflanzen. In Los Angeles, Dubai und Schanghai existieren bereits | |
kommerzielle Anwendungen. | |
## Konsumenten haben andere Sorgen | |
Aber auch in Oberhausen knüpft man internationale Kontakte. In Vietnam ist | |
man an der Technik sehr interessiert. Dort wächst die Bevölkerung gerade in | |
den Städten rapide. In Da Lat, 300 Kilometer nordöstlich von | |
Ho-Chi-Minh-Stadt, soll, so die Pläne von UMSICHT, in sehr viel größerem | |
Maßstab geforscht werden als in Oberhausen. | |
Hierzulande haben die Konsumenten andere Sorgen. Geografin Simone Krause | |
vom Fraunhofer-Institut ist überzeugt, dass die ökologische Qualität der | |
Produkte besser sei als die aus konventionellem Anbau. „Unser gewählter | |
Ansatz ist eine Möglichkeit, Regionalität, CO2-Minimierung und | |
Kreislaufdenken bei der urbanen Gemüseproduktion zu integrieren. Die | |
Qualität der Produkte ist uns sehr wichtig, und wir versuchen weitestgehend | |
ökologische Kriterien anzusetzen“, so die Wissenschaftlerin. | |
18 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Lutz Debus | |
## TAGS | |
tazlab 2012: „Das gute Leben“ | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Regisseur taucht im Marianengraben: James Cameron ganz unten | |
„Angst ist eine gute Sache“, meint „Titanic“-Regisseur James Cameron. Er | |
war mit der „Deepsea Challenger“ am tiefsten Punkt der Erde und ist | |
wohlbehalten wieder aufgetaucht. | |
Kurskorrektur bei der Deutschen Bank: Weniger Nahrungsmittelspekulationen | |
Die Deutsche Bank hat auf die Kritik von Verbraucherschützern reagiert. | |
2012 sollen keine neuen Papiere aufgelegt werden, die auf dem Handel mit | |
landwirtschaftlichen Rohstoffen basieren. | |
Pioniere der urbanen Landwirtschaft: Gartenzwerge im Dialog mit der Stadt | |
Grünkohl und Feldsalat kommen zurück in die Stadt. Die Pioniere der | |
städtischen Landwirtschaft beackern das Tempelhofer Flugfeld. Und | |
erarbeiten ein anderes Verständnis von Urbanität. | |
Interview zur Urbanen Landwirtschaft: "Gewächshäuser und Dachgärten" | |
Berlin könnte viel mehr Obst und Gemüse direkt in der Stadt ernten, sagt | |
der Forscher Axel Dierich. Doch der Senat zeige zu wenig Engagement | |
Urban Gardening: Nomaden wollen Wurzeln schlagen | |
Der Prinzessinnengarten will langfristig planen können, um den Kiez am | |
Moritzplatz mit seinen Nachbarn neu zu gestalten. Die zuständige Senatorin | |
hat sich hier aber noch nicht blicken lassen | |
Urban Gardening auf St. Pauli: Große Freiheit Ackerbau | |
Auf St. Pauli ist in den letzten Wochen ein Nachbarschaftsgarten | |
entstanden. Das Projekt ist nicht kommerziell, jeder ist eingeladen | |
mitzumachen. |