# taz.de -- Retrospektive Rote Traumfabrik: Proletarier aller Länder, amüsier… | |
> Von großen Filmerfolgen, ideologischen Missverständnissen und von | |
> erstaunlicher Blindheit erzählt die Retrospektive der Berlinale: "Die | |
> Rote Traumfabrik". | |
Bild: "Aelita" - Die Revolution beginnt auf dem Mars! | |
Unter dem griffigen Titel "Die Rote Traumfabrik" widmet die Berlinale 2012 | |
ihre Retrospektive dem deutsch-sowjetischen Studio Meshrabpom-Film. Die | |
Geschichte von Meshrabpomfilm-Russ (1923-1936) war die Geschichte einer | |
großen Utopie von Filmen für das Weltproletariat, von berauschenden | |
Triumphen und erschütterndern Katastrophen. Die Geburt des Unternehmens | |
ging nicht auf einen Film, sondern auf die Hungersnot an der Wolga zurück, | |
die Sowjetrussland 1921 erlitten hatte. | |
Lenin bat das Weltproletariat um Hilfe, und so wurde im Juli 1921 in Berlin | |
ein Komitee unter dem Vorsitz von Willi Münzenberg gegründet. Doch nicht | |
nur Geld wurde nach Russland geschickt, auch 10.000 Meter Filmmaterial, um | |
in den Hungergebieten Aufnahmen zu machen und diese in der Hilfskampagne | |
einzusetzen (Russland produzierte damals keinen Rohfilm). | |
Aus diesem Hilfs-Komitee entwickelte sich die Massenorganisation | |
Internationale Arbeiterhilfe (IAH), die im Herbst 1922 eine Filmabteilung | |
eröffnete. Sie sollte Filmtechnik für Sowjetrussland einkaufen und sich um | |
die Verbreitung der Dokumentarfilme kümmern. Für die Wirksamkeit der | |
Kampagne wurde auch ein Spielfilm in das Programm aufgenommen. So kam im | |
März 1923 - nach einer langen Unterbrechung des Filmexports während des 1. | |
Weltkriegs - der erste sowjetrussische Spielfilm nach Berlin: "Polikuschka" | |
- nach einer Erzählung von Leo Tolstoi mit Schauspielern aus dem | |
Stanislawski-Theater. | |
## Auf den Weltmarkt hoffen | |
Die deutsche proletarische Presse wusste nicht recht, wie sie diesen Film | |
einordnen soll, und meinte, der Herzschlag der Revolution poche auch in | |
diesem unpolitischen Film. Produziert wurde er vom Studio "Russ", einer | |
privaten Aktiengesellschaft. "Russ" konzentrierte sich auf | |
publikumswirksame Filme, auf Stoffe aus der russischen Geschichte und | |
Literatur, um sie auf dem Weltmarkt zu vertreiben. Als 1923 das Studio | |
entschied, eine Allianz mit der IAH in Berlin einzugehen, erschien dieser | |
Schritt nahezu unverständlich. | |
Doch Beziehungen und Kalkül spielten dabei eine Rolle: Die IAH wand sich | |
aus Pragmatismus einem privaten Filmunternehmen aus Russland zu. Der Erfolg | |
von "Polikuschka" schien ein Garant für die Eroberung des Weltmarkts. Für | |
das Studio "Russ" war der Zusammenschluss mit der kommunistischen | |
Organisation in Deutschland eine taktische Rückversicherung gegen mögliche | |
Angriffe im eigenen Land. So unterschrieben am 8. März 1923 beide Seiten | |
einen Vertrag. | |
Der Studioleiter Moissej Alejnikow hatte den prominentesten | |
vorrevolutionären russischen Regisseur, Jakow Protasanow überredet, aus der | |
Emigration zurückzukehren und auf der Grundlage des Romans Alexej Tolstoj, | |
den ersten sowjetischen Science-Fiction-Film, "Aëlita", zu drehen - über | |
die Reise dreier Russen zum Mars, die zu einer Revolution, aber auch einer | |
Liebesromanze mit der Marskönigin führt - und obendrein das Ganze als eine | |
Komödie zu gestalten! Ausgestattet wurde der Film mit kubistischen | |
Dekorationen und avantgardistischen Kostümen á la Malewitsch. | |
Für Spezialeffekte wurde Eugen Schüftan, ein deutscher Kameramann, | |
eingeladen. Dieser spektakuläre Neuanfang bescherte dem Studio jedoch im | |
eigenen Land nicht den erhofften Erfolg. "Russ" blieb einer permanenten | |
Kritik ausgeliefert - als bürgerliches, kommerzielles, dem proletarischen | |
Geist der neuen Gesellschaft völlig fremdes Unternehmen. Eigentlich sollte | |
die Allianz mit der kommunistischen IAH dem abhelfen, aber diese Hoffnung | |
erwies sich als folgenschwerer Irrtum. | |
## | |
## Helden mit Adelstiteln | |
Fast bis zur Auflösung als bürgerliche Erscheinung attackiert, wurden im | |
Ausland seine Filme als Quell proletarischer Kultur hochgepriesen. Beide | |
Einschätzungen lagen ebenso weit auseinander, wie sie übertrieben waren. | |
"Die Marke Meshrabpom-Russ ist ein Genre im sowjetischen Film", schrieb der | |
Kritiker Michail Bleiman, "das Material: Geschichte mit Kostümen oder | |
besser ohne. Manchmal, um die Fracks zensurfrei zu zeigen, wird die | |
Handlung ins Ausland verlegt. Die Helden haben meist Adelstitel. Keine | |
Figur geht unter einem Grafen weg. Selbst die Diener sind echte | |
Aristokraten. Den Filmen liegt immer ein Liebeskonflikt zugrunde. Der Liebe | |
wegen wird Revolution gemacht, Kriege werden angefangen oder beendet, | |
Weltkatastrophen in Gang gesetzt." | |
Aber nicht nur sexualisierte Historiendramen, Melodramen über verführte | |
Mädchen wie "Der gelbe Pass", Komödien aus dem sowjetischen Alltag wie "Das | |
Mädchen mit Hutschachtel" und mondäne Abenteuerfilme aus dem Leben des | |
dekadenten Westens wie "Miss Mend" - allesamt auf dem inländischen Markt | |
erfolgreiche Unterhaltung - bestimmten das Profil des Studios. 1925 | |
wechselte fast die gesamte Werkstatt von Lew Kuleschow an das Studio und | |
brachte eine experimentelle Note in das Programm ein. Wsewolod Pudowkin, | |
Boris Barnet und Sergej Komarow wurden bald zu den führenden Regisseuren. | |
Pudowkin bestimmte nun die andere Richtung, die das Studio für das Ausland | |
verfolgte: revolutionäre Werke nach dem Vorbild von Eisensteins | |
"Panzerkreuzer Potemkin". Die folgten einem anderen ästhetischen Programm - | |
geometrische Linien bestimmten die Komposition eines fast leeren Filmraums. | |
Dazu kam die rhythmische Montage kurzer Einstellungen, die die Dynamik | |
intensivierte. Das Bild des dörflichen Russland wurde für unfotogen | |
erklärt. | |
Pudowkins "Sturm über Asien" bot einen idealen Zusammenschluss alter und | |
neuer Stereotypen: die ethnographische Exotik einer dokumentarisch | |
gefilmten buddhistischen Zeremonie und Revolution, das individuelle | |
Ausnahmeschicksal eines Nachfahren von Dschingis Khan und eine | |
beeindruckende Montage von Massenszenen. Der Hauptdarsteller Waleri | |
Inkishinow war die Verkörperung des Russisch-Asiatischen schlechthin, | |
"absolut erdhaft". Die Premiere in Berlin bescherte einen überwältigenden | |
Erfolg. | |
## Um Kredite betteln | |
Trotzdem wird das Studio von den Kritikern daheim als innerer Emigrant | |
wahrgenommen und vom staatlichen Filmkomitee Sowkino als Erzrivale. Es muss | |
um Subventionen und Kredite betteln, doch als Privatunternehmen bekommt es | |
keine. In Berlin wird entschieden, die Anteile der IAH drastisch zu erhöhen | |
und das Studio in "Meshrabpomfilm", also "IAH- Film" umzubenennen. Um der | |
Quotenkontingentierung von Importen entgegenzuwirken, wird beschlossen, | |
russische Filme in Deutschland zu produzieren, auch eine Neuverfilmung von | |
Tolstois "Lebendem Leichnam". Die erfolgreichen Film-Russen, die Stars des | |
Studios, Fjodor Ozep, Anna Sten, Waleri Inkishinow, bleiben im Ausland als | |
Emigranten zurück. | |
Anfang der 1930er Jahre sollte die Ausrichtung des Studios sich jäh ändern. | |
Dahinter stand Willi Münzenberg mit seiner Idee: Film sei ein | |
Propagandamittel, doch die proletarischen Massen im Westen hätten dieses | |
Mittel nicht in der Hand, aber es gäbe in der Sowjetunion ein Studio, an | |
dem die IAH als Gesellschafter beteiligt ist. Der vorherige Versuch, die | |
"Prometheus" als ein solches Studio in Deutschland zu etablieren, war | |
gescheitert. Die Firma hatte einige wenige Spiel- und Dokumentarfilme über | |
proletarischen Kampf und proletarisches Elend (wie "Mutter Krausens Fahrt | |
ins Glück") produziert und ging bankrott. Von nun an sollte das Studio | |
"Meshrabpomfilm" Ausländer nach Moskau holen, um dort Filme für das | |
Weltproletariat zu drehen, und zwar in deutscher Sprache. | |
Bald fahren Erwin Piscator, Joris Ivens und Hans Richter nach Moskau. Doch | |
da kam der Tonfilm mit seinen "Sprachbarrieren" der gewählten | |
Internationalisierung der Produktion - für die Proletarier aller Länder - | |
in die Quere. Genauso brach der Widerspruch zwischen der ursprünglichen | |
Fixierung des Studios "Russ" auf Kino-Kommerz und der Ausrichtung der IAH | |
auf politische Propaganda auf. Oder wollte die IAH mit Propaganda Geld | |
verdienen und das Studio "Russ" seine Unterhaltung der Proletarier aller | |
Länder als Propaganda verkaufen? | |
## Emigranten interniert | |
1934 wird das Studio Meshrabpomfilm einmal mehr reorganisiert und in "Rot | |
Front" umbenannt. Hier sollen nun deutsche Emigranten, die nach Hitlers | |
Machtergreifung in die Sowjetunion gekommen waren, arbeiten. Der Film | |
"Kämpfer" sollte das Paradestück werden. Von Gustav von Wangenheim | |
realisiert, bringt er zwei Stränge zusammen: den realen | |
Reichstagsbrandprozess gegen Georgi Dimitrow in Leipzig und einen fiktiven | |
gegen Arbeiter in der deutschen Provinz, die beschuldigt werden, ihre | |
Fabrik in Brand gesetzt zu haben. Doch fast alle deutschen Emigranten, die | |
in dem Film mitwirken, werden während der Dreharbeiten verhaftet und | |
verschwinden spurlos in Lagern. | |
1936 wird das Studio geschlossen. So endete dieses merkwürdige Konglomerat | |
aus Kasse und Ideologie, Tradition und Experiment, Künstlertheater und | |
Konstruktivismus, Revolutionsfilm und Unterhaltung, altem Russlandbild und | |
proletarischem Internationalismus, Filme über die Welt und das | |
Weltproletariat - aus der Isolierung von innen wie außen - entstehen | |
sollten. Eine Vision von utopischer Kraft und erstaunlicher Blindheit | |
zugleich. | |
9 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Oksana Bulgakowa | |
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