# taz.de -- Sinkendes Ansehen einer Nation: Der böse Deutsche in der Landschaft | |
> Seit Kanzlerin Angela Merkel Europa zum Sparen zwingt, sinkt das Ansehen | |
> der Deutschen. Es ist uns seltsam egal. Der Bericht eines Betroffenen. | |
Bild: Angela Merkel ist in Athen ungefähr so populär wie Hitler. | |
Ein Geständnis vorneweg: Ich habe keine Probleme mit Stereotypen. Und ich | |
liebe es, ein deutschsprachiger Autor zu sein, in der deutschen Sprache zu | |
schreiben und zu denken. | |
Ich bin in Ostdeutschland geboren, lebe mit einer griechischen Frau | |
zusammen, arbeite häufig in Österreich und schreibe am liebsten außerhalb | |
von Deutschland. Und auch, worüber ich schreibe, bewegt sich in diesen | |
Zwischenräumen. Wenn ich in Griechenland bin, streicheln die Leute | |
neuerdings meiner sieben Monate alten Tochter über den Kopf und sagen: | |
"Pass auf, dass sie nicht wie die Merkel wird." Bin ich in Österreich, | |
klopft man mir hin und wieder auf die Schulter mit der Bemerkung: "Für | |
einen Piefke reds't eh wenig Blödsinn." | |
Stereotypen und Klischees zur deutschen Identität gehören also zu meinem | |
Leben, ich habe mich an sie gewöhnt - und auch wieder nicht. Es ist nämlich | |
ein Traum von mir, dass meine Herkunft aus Deutschland etwas anderes | |
auslöst als klischeehafte Assoziationen. Dass es nicht nur den Mythos | |
Berlin gibt, nicht nur Politik und das Theater, die Literatur und das neue | |
deutsche Kino, sondern auch etwas wie einen Ton, einen Klang, der gar | |
nichts Konkretes meinen muss, der aber atmosphärisch in ein gutes Gelände | |
der Alltagskultur führt. | |
Dieses Gefühl, das einen überkommt, wenn man morgens in der überfüllten | |
U-Bahn steht und jemand murmelt: "Hoffentlich sagt jetzt keiner ,Los | |
geht's'." Oder wie die Verkäuferin gestern in der Bäckerei meinte: "Alle | |
Kunden reden jetzt von der Fastenzeit, und auf mir bleibt nichts hängen", | |
wobei sie mit ihren Händen verzweifelt die Spanne zwischen Stoff und | |
Oberarm auszupfte. Dieser Ton gehört zu dem Sprachland, in dem ich so gern | |
lebe. Die Deutschen als subtile Barbaren und fragile Komödianten. | |
## Sanftes Deutschsein | |
Diesen Ton haben sich ja glücklicherweise schon einige Autoren zuvor | |
erträumt. Eines meiner Lieblingsbücher in diesem Zusammenhang ist die | |
Briefsammlung "Deutsche Menschen" von Walter Benjamin, die sich gerade in | |
diesen Tagen wieder zu lesen lohnt. Das Buch besteht aus Briefen aus dem | |
19. und späten 18. Jahrhundert. Benjamin vermutete in diesen Briefen eine | |
bestimmte Haltung, eine Art von Deutschsein, das gegen den Naziungeist als | |
Serum wirken sollte. | |
Darunter liegt aber ein immer noch lebendiges Motiv, das nichts mit der | |
Nazizeit zu tun hat. Die sehr aktuelle Frage nach einem sanften | |
Deutschsein, nach einer Sprache, durch die wie "durch das Mauerwerk eines | |
unerschütterlichen, ausgestorbenen Baues", wie Benjamin schreibt, "das | |
Gefühl" dringt. | |
Benjamin gefielen dabei Sätze wie jener von Friedrich Hölderlin: "Deutsch | |
will und muss ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und | |
Nahrungsnot nach Otaheiti triebe." Das Buch fängt ein unprätentiöses, | |
zugleich emotionales Denken ein, in dem Benjamin seine Liebe zur deutschen | |
Kultur finden wollte, freilich mit viel Idealismus versehen. Ist dieses | |
Denken altmodisch geworden? | |
Mich wundert in diesem Zusammenhang, dass solche Fragen, gerade jetzt | |
angesichts der Debatte, welche Rolle Deutschland in Europa spielt, kaum | |
jemanden so richtig auf den Nägeln brennen. Staatspräsidenten anderer | |
Länder werfen uns wutentbrannt vor, dass unsere Politiker ihr Volk | |
beleidigen. Protestzüge in Athen, die eigentlich auf eine europäische | |
Haltung abzielen, zeigen auffällig viele Bilder deutscher Prominenz. | |
## Unbehagliche Dominanz | |
Auch in Ländern wie Polen oder Tschechien machen sich bei manchen | |
Zeitgenossen skeptische Gefühle breit, ob das Nachbarland sich nicht eine | |
unbehagliche Dominanz anmaßt. Das mag übertrieben sein, zuweilen auch | |
billig, populistisch und banal, jedoch lässt sich freilich die Frage | |
stellen, warum gerade unser Land zu solchen heftigen Reaktionen reizt. | |
Jener den Deutschen nachgesagte Hang zum belehrenden, harten Sprechen, das | |
erst mal draufhaut und dann einen Standpunkt erklärt, könnte man in vielen | |
öffentlichen Auskünften in den letzten Wochen problemlos als wahr belegen. | |
Die Genauigkeit, Zärtlichkeit und Poesie der deutschen Sprache wird eben | |
nie Alltag. | |
## Moral des Rechthabens | |
Was wir in der Filmsprache von Fatih Akin, Valeska Grisebach oder Christian | |
Petzold bewundern, was wir in den Büchern von Durs Grünbein, Jan Wagner | |
oder Sibylle Lewitscharoffs lieben, um nur ein paar persönliche Favoriten | |
zu nennen, wird nicht stilbildend. | |
Die Sprache unserer öffentlichen Kultur bleibt von einer Moral des | |
Rechthabens, des Bezichtigens und unnachgiebigen Dominantseins geprägt. Hat | |
es über dieses Thema in den letzten Wochen eine nennenswerte Debatte | |
gegeben? Warum fallen uns Genauigkeit, Differenzierung oder Stillsein so | |
schwer? Und warum schockiert es uns nicht, dass so viele antideutsche | |
Ressentiments plötzlich wieder hochkochen? | |
Kultur ist ein Vorgang, schrieb der Historiker Alexander Demandt einmal. | |
Man könnte hinzufügen: der sich in der Sprache vollzieht. Es geht ja nicht | |
um die Frage, ob man die besseren Argumente oder sogar recht hat, sondern | |
darum, den Standpunkt des anderen zu integrieren. Stereotype kann man nicht | |
verhindern, aber den Saft an ihren Wurzeln kann man auffinden. Dass so | |
viele Menschen in anderen Ländern nicht nur unsere Politiker ablehnen, | |
sondern negativ über "die Deutschen" sprechen, sollte uns nicht egal sein. | |
## Kalt ums Herz | |
Seit Jahren geistert übrigens durch meinen Kopf der Plan, einmal eine | |
Novelle über einen Mann zu schreiben, der die deutsche Sprache erlernt. Der | |
als Fremder in eine Stadt nach Süddeutschland kommt und dort zu leben | |
versucht. Auf meinen Notizzetteln stehen schon lauter Szenen, was ihm | |
widerfährt. | |
Etwa, dass er zu einem Zeitpunkt, als er die Sprache schon gut zu | |
beherrschen meint, auf einen Kollegen trifft, der ihm ganz sachlich Rat | |
gibt: "Das sollten Sie sich zweimal überlegen", und er sich keinen Reim auf | |
die Botschaft machen kann, nur spürt, wie es ihm plötzlich sehr kalt ums | |
Herz wird. Oder er trifft auf einer Abendveranstaltung eine junge Frau, die | |
ihn freundlich anlächelt und als Zustimmungsvokabeln ständig die klar | |
prononcierten Wörter "stimmt" und "richtig" verwendet, ohne dass er weiß, | |
was genau ihre Zustimmung trifft. | |
Aber dann denke ich: Ich warte noch ein wenig. Ich müsste, um diese Novelle | |
gut zu schreiben, noch ein Stück weiter abrücken und freier sein. Dieser | |
Mann wäre noch zu sehr ich selbst. Ich lerne immer noch die deutsche | |
Sprache - zumindest jene des Alltags und jene des offiziellen Betriebs, in | |
dem man sich eine gewisse nüchterne Abhärtung erwerben muss. | |
Aber wie schrieb Theodor Adorno so schön im Nachwort zu Walter Benjamins | |
Briefbuch: "Die Gewalt der Ernüchterung rührt her von der unbestechlichen | |
Treue zum Traum, der nicht aufgezehrt werden soll von seiner Anrufung." | |
22 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Gernot Wolfram | |
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