# taz.de -- Interview mit Moscheevorstand: "Wie ein Außerirdischer" | |
> Ender Cetin ist der Gemeindevorsitzende der Sehitlik-Moschee. Nach einer | |
> inzwischen aufgeklärten Serie von Brandanschlägen wurde der Gemeinde | |
> wieder gedroht. | |
Bild: Ender Cetins Wirkungsstätte: die Sehitlik-Moschee am Columbiadamm. | |
taz: Herr Cetin, haben Sie mal versucht, sich vorzustellen, wie der | |
Absender des Hassbriefes aussehen könnte, den Ihre Gemeinde erhalten hat? | |
Ender Cetin: Ich habe den Brief komplett durchgelesen, und mir kommt das | |
Ganze teils sehr esoterisch vor. Es geht um Atlantis und die | |
Weltverschwörung und so etwas. Da dachte ich mir, dass sind nicht diese | |
klassischen Nazis mit Glatze und Springerstiefeln, sondern die müssen | |
irgendwie ganz anders aussehen. Auch nicht wie normale Bürger, sondern | |
irgendwie esoterisch. Bunter, so stelle ich sie mir vor. | |
Ein bisschen wie Spinner? | |
Ja, ich glaube schon. Wobei ich mir natürlich auch Sorgen mache. Der | |
Sprachgebrauch in dem Brief hat etwas sehr Intellektuelles, obwohl er | |
inhaltlich natürlich nicht ernst zu nehmen ist. Aber er hat schon ein | |
anderes Niveau als das, was wir hier sonst manchmal an rassistischen | |
Zuschriften bekommen. | |
In welcher Hinsicht? | |
Die Autoren stellen sich teilweise als wissenschaftliche Organisation dar, | |
die sich Neue Philosophengemeinschaft nennt. Sie zitieren Koranverse und | |
klassische Autoren, Gesetze aus islamischen Ländern oder auch | |
Forschungsberichte. Da hat sich jemand richtig Mühe gemacht. | |
Sehen Sie jetzt jedem Deutschen ohne Migrationshintergrund mit Misstrauen | |
ins Gesicht? | |
Nein. Ich bin ja hier aufgewachsen, ich bin ein Teil dieser deutschen | |
Gesellschaft und betrachte das als mein Land. Klar gibt es immer wieder | |
Menschen, die unfreundlich sind. Da kommt mir immer wieder der Gedanke, ob | |
es daran liegt, dass wir Türken, dass wir Muslime sind. Aber als Muslim | |
muss ich jeden Menschen erst einmal mit Liebe und Respekt betrachten. | |
Sie sind geborener Berliner. Wie kam es dazu, dass die Religion in Ihrem | |
Leben eine so große Rolle spielt, dass sie jetzt sogar Ihren Beruf | |
bestimmt? | |
Eigentlich passt das gar nicht zu meinem Lebenslauf. Meine Eltern sind | |
überhaupt nicht religiös. Sie kommen aus Canakkale, der westlichsten | |
Küstenregion der Türkei, wo die Leute traditionell nicht so religiös sind. | |
Mein Vater hatte ein Problem damit, als ich anfing, fünfmal am Tag zu | |
beten. Er dachte, ich werde jetzt ein religiöser Fundamentalist. Er | |
versteht auch überhaupt nicht, dass meine Frau freiwillig Kopftuch trägt, | |
auch meine Mutter war dagegen. Sie hatten Angst, dass ich mich durch die | |
Religion von ihnen abwende. Dabei hat die Religion eher dazu beigetragen, | |
dass ich meine Eltern respektvoller behandele. Das haben sie auch | |
irgendwann gemerkt und respektieren jetzt meinen Weg. Mein älterer Bruder | |
ist überhaupt nicht religiös. | |
Wie sind Sie denn zur Religion gekommen? | |
Das Interesse kam durch die Suche nach meiner eigenen Identität. Ich bin in | |
Nordneukölln aufgewachsen und habe dort auf dem Gymnasium Abitur gemacht. | |
Die Lehrer oder auch Eltern von Mitschülern fragten andauernd nach der | |
Religion, ständig wurde ich auf den Islam angesprochen und musste mich als | |
Muslim rechtfertigen, auch in Verbindung mit politischen Themen. Da muss | |
man sich dann irgendwann positionieren. Ich weiß nicht, ob ich mich mit dem | |
Islam zu befasst hätte, wenn mich nicht dauernd Leute danach gefragt | |
hätten. | |
Wie alt waren Sie, als Sie angefangen haben zu beten? | |
Mit 16 oder 17 habe ich angefangen, unregelmäßig zu beten. Irgendwann kam | |
es dann zu einem Rhythmus. | |
Es hätte aber auch wie eine pubertäre Erscheinung irgendwann zu Ende sein | |
können? | |
Ja. Aber ich habe mich dabei wohlgefühlt. Obwohl ich damit das schwarze | |
Schaf der Familie war. | |
Es hat Ihnen offenbar dennoch Identität gegeben. | |
Ja. Am Anfang war das Religiöse, wie ich es auch heute bei vielen | |
Jugendlichen merke, eher eine Abwehrreaktion. Weil man immer in die Ecke | |
gedrängt wurde und sich verteidigen musste. Nach der Pubertät hat sich das | |
geändert und ich habe mir gesagt: Religion kann sehr wohl integrativ sein, | |
Transparenz fördern, dazu führen, dass der Mensch sich für die Gesellschaft | |
einsetzen kann, in der er lebt. Das hat dafür gesorgt, dass ich dabei | |
geblieben bin. | |
Der ursprüngliche Anstoß für Ihre Religiosität war die Erfahrung, | |
ausgegrenzt zu werden – und nun engagieren Sie sich hauptberuflich für | |
Transparenz, Öffnung und Aufhebung von Trennungen? | |
Ich schaue, was die Religion dazu beitragen kann. Ich finde, dass die | |
Schriften – der Koran und die anderen religiösen Schriften – dabei sehr | |
hilfreich sind. Natürlich kann man daraus auch Stellen zitieren, die | |
scheinbar etwas ganz anderes vermitteln. Aber erst, wenn man das Ganze | |
betrachtet, erkennt man das eigentliche Ziel. Religion kann viel Positives | |
bewirken. | |
Aber trennt Ihre Religion Sie nicht immer noch auch von der | |
nichtmuslimischen Mehrheit? | |
Man merkt oft, dass Religiosität in der Gesellschaft als etwas Unnormales | |
betrachtet wird, muslimische ebenso wie christliche. Man wird manchmal wie | |
ein Außerirdischer betrachtet, als ob man ganz anders lebt als die anderen. | |
Das stimmt aber nicht. Ich bete fünfmal am Tag, aber sonst unterscheidet | |
sich mein Leben nicht groß. | |
Wie sind Sie eigentlich bei Ditib gelandet? Die Organisation hängt ja eng | |
mit der Türkei zusammen. | |
Das kam nur daher, dass die Ditib-Moschee gegenüber unserer alten Wohnung | |
lag. Der Imam dort hat sich sehr viel mit den Jugendlichen beschäftigt. | |
Vielleicht hängt es auch mit dem Türkischsein zusammen. Bei Ditib wurde | |
auch auf die türkische Kultur, die türkische Sprache Wert gelegt. Auch | |
meine Herkunft hatte ja bei meiner Identitätssuche eine Rolle gespielt. | |
Wo fühlen Sie sich heute sicherer, in der deutschen oder der türkischen | |
Sprache? | |
Gute Frage. Ich träume oft auf Türkisch. Aber wenn ich in der Türkei bin, | |
fühle ich mich eindeutig im Deutschen sicherer. Bei Schriftsprache und | |
Fachbegriffen bin ich im Deutschen absolut besser. Obwohl: Wenn ich hier | |
mit Politikern oder Medien spreche, habe ich oft das Gefühl, dass mir im | |
Deutschen die richtigen Worte fehlen. | |
Auf dem Friedhof vor der Moschee sind türkische Menschen beerdigt, die | |
teils schon vor zweihundert Jahren hier gelebt haben. Was vermittelt Ihnen | |
das? Ist das identitätsstiftend? | |
Es ist wie ein Zeichen. Der erste Botschafter des Osmanischen Reichs in | |
Preußen, Ali Aziz Efendi, wurde erst am Südstern begraben und liegt nun | |
hier beerdigt – ausgerechnet in einer Gegend, in der heute so viele | |
türkischstämmige und muslimische Einwanderer leben. Es ist, als wäre er | |
eine Art Vorreiter für uns gewesen. Als Diplomat war er ein sehr nobler, | |
vornehmer Mann, ein Vorbild. Und dass es diese alten Beziehungen zwischen | |
dem Osmanischen Reich und Preußen gab, die hier sichtbar werden, hilft | |
dabei, sich mit der Geschichte beider Länder, der Türkei und Deutschlands, | |
zu identifizieren. | |
Vor diesem Hintergrund – Ihrem biografischen und diesem historischen: Wie | |
fühlt es sich an, einen Brief zu lesen, in dem steht, alle Muslime sollten | |
innerhalb von sechs Monaten das Land verlassen, da es sonst zu Gewalt käme? | |
Ich würde so etwas ja eher auf die leichte Schulter nehmen. Aber das Umfeld | |
macht sich Sorgen, und das macht mir dann Sorgen. Es ist kein schönes | |
Gefühl, einen genauen Termin genannt zu bekommen, von dem an man besser | |
aufpassen solle. Wir haben seit den Brandanschlägen, die in den vergangenen | |
Jahren auf die Moschee verübt wurden, Kameras. Das finden wir schon nicht | |
toll, so ein Kontrollsystem, das darauf hinweist, dass man eigentlich immer | |
in Gefahr ist. Das schürt Angst. Auf der anderen Seite bekommen wir viel | |
Unterstützung: Der Innensenator ruft an, die Integrationssenatorin kommt, | |
die evangelische Kirche unterstützt uns. Schlimm wäre es, wenn das nicht | |
käme. Seitdem der rechtsextreme Hintergrund der Morde an türkischen | |
Einwanderern aufgedeckt wurde, nimmt man Sachen wie diesen Brief ernster. | |
Wir als Muslime müssen auch noch stärker fordern, dass gegen | |
Rechtsextremismus und Islamfeindlichkeit vorgegangen wird. | |
Ihre Moschee tut ja schon viel: Keine andere empfängt so viele | |
Besuchergruppen. Kommen da viele Vorurteile zum Vorschein? | |
Ja, oft. Wir hatten vor kurzem eine Gruppe von Justizvollzugsbeamten zu | |
Besuch – gut, die haben nur mit den Negativbeispielen zu tun, mit | |
muslimischen Jugendlichen, die im Gefängnis sitzen. Die haben schon | |
interessiert zugehört, als ich unsere Arbeit hier vorgestellt habe. Aber | |
sie waren nicht von der Vorstellung abzubringen, dass wir hier als | |
friedliche Muslime die Ausnahme und Selbstmordattentäter und Kriminelle die | |
Regel sind. Beim Abschied sagte einer: Die Angehörigen der Opfer der | |
NSU-Morde bekämen ja Entschädigungszahlungen. Warum bekämen denn Angehörige | |
der von Muslimen ermordeten Deutschen nichts? Ich war total erschüttert und | |
hätte gerne noch erfahren, was er genau meint, aber ich konnte da gar | |
nichts mehr zu sagen. Er ging dann einfach und hatte diesen Satz offenbar | |
unbedingt noch loswerden müssen. Für uns ist es wichtig, dass wir diese | |
Vorurteile irgendwie wegbekommen aus den Köpfen. Wir möchten irgendwann mal | |
einfach als die netten muslimischen Nachbarn von nebenan akzeptiert werden. | |
Haben Sie noch Hoffnung, dass das in Deutschland möglich ist? | |
Trotz Sarrazin und der Nazimorde habe ich diese Hoffnung noch. Auf der | |
einen Seite hat man immer das Gefühl, alles verschlimmere sich. Aber es | |
gibt ja auch Unterstützung, viele Projekte, die sich darum bemühen. Das | |
schafft ein Gegenwicht. Außerdem gibt mir mein Glaube Hoffnung und Mut, | |
optimistisch zu sein. Man darf die Barmherzigkeit Gottes nicht in Frage | |
stellen. | |
29 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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