| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Reichen schröpfen | |
| > Der Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten fordert einen | |
| > Spitzensteuersatz von 75 Prozent. Touché! Die USA lagen mal, lang ist's | |
| > her, bei 94 Prozent. | |
| Bild: Ob Millionär Romney die Geschichte kennt? | |
| Die Occupy-Wallstreet-Bewegung (OWS) in den USA hat noch keine Obergrenze | |
| für individuelle Einkommen gefordert, aber das ist wahrscheinlich nur eine | |
| Frage der Zeit. Seit dem „Goldenen Zeitalter“, also der Epoche nach dem | |
| Sezessionskrieg (1859–1864), hat es in den USA immer wieder Bewegungen von | |
| unten gegeben, die im Sinne der ökonomischen Gerechtigkeit eine | |
| Einkommensobergrenze forderten. Heute tritt diese Idee in Gestalt der | |
| Forderung nach einem „Maximallohn“ auf. | |
| Der Begriff bezieht sich natürlich auf das bekannte Konzept eines | |
| „Mindestlohns“. Wobei sich der Maximallohn nicht nur aus den monatlichen | |
| Einkommen errechnet, sondern die Gesamtheit der jährlichen Bezüge erfasst, | |
| egal aus welchen Quellen sie kommen. Die grundlegende Idee ist folgende: Zu | |
| einer anständigen Gesellschaft gehört nicht nur ein Mindesteinkommen, von | |
| dem abhängig Beschäftigte leben können, ohne in Not zu geraten. Genauso | |
| wichtig ist ein Höchsteinkommen, das eine gefährliche Konzentration der | |
| Vermögen verhindert. | |
| Die Forderung nach einer solchen Obergrenze formulierte erstmals der | |
| Philosoph Felix Adler, den man eher als Gründer des National Child Labor | |
| Committee kennt, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Kampagne gegen | |
| die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen führte. Adler ging davon aus, | |
| dass die riesigen Privatvermögen, die durch die Ausbeutung junger wie alter | |
| Arbeitskräfte entstanden, einen „korrumpierenden Einfluss“ auf das | |
| politische Leben ausübten. Um dem entgegenzuwirken, schlug er eine stark | |
| progressive Einkommensteuer vor, die bis auf 100 Prozent ansteigen sollte. | |
| ## Genug ist genug | |
| Mit anderen Worten: Oberhalb von einem Niveau, das seinem Besitzer „alle | |
| Annehmlichkeiten und wahren kultivierten Bedürfnisse“ ermöglichte, sollten | |
| die Einkommen in vollem Umfang abgeschöpft werden. Dieser Steuersatz von | |
| 100 Prozent sollte, wie Adler 1880 seinen Anhängern in New York City | |
| erklärte, einem wohlhabenden Individuum alles belassen, was „den | |
| Lebensbedürfnissen des Menschen tatsächlich zugutekommt“, und ihm nur das | |
| Geld wegsteuern, das lediglich als Mittel zur Entfaltung von „Pomp, eitlem | |
| Stolz und Macht“ diene.(1) | |
| Obwohl die Ideen Adlers in der New York Times breite Publizität fanden, | |
| wurde ein entsprechender Gesetzesvorschlag erst während des Ersten | |
| Weltkriegs formuliert. Damals forderten progressive Abgeordnete eine | |
| Steuerquote von 100 Prozent auf alle Jahreseinkommen von mehr als 100 000 | |
| Dollar, die zur Finanzierung der Kriegskosten beitragen sollte. | |
| Getragen wurde diese Forderung vom American Committee on War Finance, das | |
| sich auf ein Netzwerk von 2 000 freiwilligen Helfern im ganzen Land | |
| stützte. In Zeitungsanzeigen wurden die Leser aufgefordert, sich per | |
| Unterschrift für „die rasche gesetzliche Umsetzung“ eines Steuersystems | |
| einzusetzen, das über alle jemals in den USA vorgeschlagenen Regelungen | |
| weit hinausging: Die „Wehrpflicht für den Reichtum“ bedeutete nichts | |
| anderes als eine gesetzlich festgelegte Einkommensobergrenze. | |
| Der Vorsitzende des Komitees, ein New Yorker Rechtsanwalt namens Amos | |
| Pinchot, stellte damals fest: „Wenn die Regierung das Recht hat, das Leben | |
| eines Mannes zu öffentlichen Zwecken in Beschlag zu nehmen, dann sollte sie | |
| gewiss auch das Recht haben, zu denselben Zwecken das Vermögen eines Mannes | |
| zu beschlagnahmen.“ | |
| ## In vier Jahren von 7 auf 77 | |
| Vor dem Kongress erklärte Pinchot den Volksvertretern, dass die reichsten | |
| zwei Prozent der Amerikaner 65 Prozent des Reichtums der ganzen Nation | |
| besaßen, woraus er den Schluss zog: „Weder die USA noch irgendein anderes | |
| Land können einen Krieg führen, der die Welt für die Demokratie und | |
| zugleich für die Plutokratie retten soll. Wenn der Krieg Gott zu Gefallen | |
| sein soll, kann er nicht dem Mammon zu Gefallen sein.“(2) | |
| Pinchot und seinen Freunden gelang es damals nicht, ihre Ziele | |
| durchzusetzen. Aber ihre Kampagne bewirkte immerhin, dass sich die | |
| Steuerdebatte bei Kriegsende völlig gedreht hatte und dass der | |
| Spitzensteuersatz für Einkommen über eine Million Dollar 1918 auf 77 | |
| Prozent angehoben wurde, nachdem er 1914 noch bei 7 Prozent gelegen hatte. | |
| Dann aber machte die „Angst vor der roten Gefahr“, die nach dem Ersten | |
| Weltkrieg ausbrach, alle Hoffnungen auf eine egalitäre amerikanische | |
| Gesellschaft schnell zunichte und führte im Gegenteil zu einem politischen | |
| Rechtsruck, der eine erneute Rettung der Plutokratie bedeutete. | |
| Die Konzentration von Einkommen und Vermögen beschleunigte sich im Lauf der | |
| 1920er Jahre rasant. Und im Kongress setzten Demokraten wie Republikaner | |
| deutlich reduzierte Steuern für die Reichsten der Reichen durch. 1925 wurde | |
| kein Jahreseinkommen von über 100 000 Dollar mit mehr als 25 Prozent | |
| besteuert. | |
| Diese ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen trug zu der | |
| spekulativen Welle bei, die Ende 1929 zum Kollaps der US-Wirtschaft führte. | |
| 1933 war die Arbeitslosigkeit in den USA auf 25 Prozent gestiegen. In | |
| diesen Jahren der „Großen Depression“ wurde der Ruf nach Einkommensgrenzen | |
| wieder lauter. Ein wortgewaltiger junger Senator aus Louisiana namens Huey | |
| P. Long startete eine Bewegung namens „Share Our Wealth“ (Teilen wir | |
| unseren Reichtum), die im ganzen Land an Boden gewann. Long forderte für | |
| die individuellen Einkommen eine Obergrenze von 1 Million Dollar pro Jahr | |
| (was nach heutiger Kaufkraft 15 Millionen entsprechen würde); die | |
| Nettovermögen sollten 8 Millionen Dollar nicht übersteigen. | |
| ## Roosevelts Spitzensteuersatz | |
| Präsident Franklin D. Roosevelt versuchte, Long das Wasser abzugraben, | |
| indem er im Juni 1935 ein Steuerkonzept nach dem Motto „Die Reichen | |
| schröpfen“ vorlegte. Für die Unternehmer und Großverdiener des Landes war | |
| dies ein gewaltiger Schock. Ende 1935 erfolgte die Anhebung des | |
| Spitzensteuersatzes auf 79 Prozent, der für Jahreseinkommen von mehr als 5 | |
| Millionen Dollar (auf heute umgerechnet: 78 Millionen) gelten sollte. | |
| Durch dieses Manöver – und das tödliche Attentat auf Huey Long im August | |
| 1935 – verschwand die Idee einer Einkommensobergrenze in der Versenkung. | |
| Aber im April 1942 kam sie erneut auf die Tagesordnung: Auf Betreiben der | |
| Gewerkschaften forderte der Präsident, während der Kriegszeit die Einkommen | |
| auf maximal 25 000 Dollar jährlich (heute: 350 000 Dollar) zu begrenzen. | |
| 1944 erhöhte der Kongress den Spitzensteuersatz für Einkommen über 200 000 | |
| Dollar auf die neue Rekordhöhe von 94 Prozent. | |
| Danach lag der Spitzensteuersatz in den USA zwei Jahrzehnte lang bei um die | |
| 90 Prozent, ehe er 1965 unter dem demokratischen Präsidenten Lyndon B. | |
| Johnson auf 70 Prozent gesenkt wurde. Unter dem Republikaner Ronald Reagan | |
| sank er 1981 weiter auf 50 Prozent und 1988 sogar auf 28 Prozent. Derzeit | |
| liegt die Spitzensteuer wieder bei 35 Prozent. Aber diese Zahl täuscht über | |
| die tatsächliche Steuerbelastung der Reichen hinweg: Deren Einkommen | |
| stammen großenteils aus Kapitalerträgen – also aus Geschäften mit Aktien, | |
| Staatspapieren und anderen Werten –, und die werden mit lediglich 15 | |
| Prozent besteuert. | |
| ## Die Unternehmenssteuer ist dran | |
| Im Steuerjahr 2008 verfügten die 400 bestverdienenden Steuerzahler der USA | |
| über durchschnittlich 270,5 Millionen Dollar Jahreseinkommen. Diese | |
| Superreichen zahlten – dank der Schlupflöcher in den Gesetzen – im | |
| Durchschnitt lediglich 18,1 Prozent Einkommensteuer. Zum Vergleich: 1955 | |
| hatten die 400 reichsten US-Amerikaner durchschnittlich 13,3 Millionen | |
| Dollar (im Dollarwert von 2010), aber für diese sehr viel geringeren | |
| Einkommen führten sie 51,2 Prozent an Steuern ab. | |
| Heute setzen die Nachfolger von Felix Adler, Amos Pinchot und Huey P. Long | |
| eher auf die Erhöhung der Unternehmens- und nicht der Einkommensteuer. Sie | |
| fordern von den Regierenden – auf kommunaler, einzelstaatlicher und | |
| bundesstaatlicher Ebene –, allen Unternehmen, deren Managerbezüge um ein | |
| Vielfaches über den Löhnen ihrer Beschäftigten liegen, sämtliche | |
| staatlichen Subventionen und Vergünstigungen zu streichen. | |
| Das ist ein probates Mittel, weil heute fast jeder große US-Konzern in | |
| irgendeiner Weise auf Staatsgelder angewiesen ist. Die Unternehmen bekommen | |
| öffentliche Mittel, wenn sie einen staatlichen Projektauftrag an Land | |
| ziehen, aber auch als direkte Fördergelder oder als indirekte Subventionen | |
| in Form von steuerlichen Vergünstigungen oder Nachlässen. Deshalb lautet | |
| die Forderung, dass kein einziger Dollar aus öffentlichen Töpfen an | |
| Unternehmen gehen sollte, die ihre Manager 10- oder 20- oder 50-mal besser | |
| bezahlen als ihre Arbeiter.(3) | |
| ## Comeback für Adler | |
| In diesem Sinne argumentierten die Verfasser eines Reports des Institute | |
| for Policy Studies: „Die US-Regierung vergibt heutzutage keine Aufträge an | |
| Unternehmen, die aufgrund ihrer diskriminierenden Beschäftigungspolitik die | |
| Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und ethnischen Gruppen in den | |
| Vereinigten Staaten verschärfen. Nach demselben Prinzip könnte man Aufträge | |
| an Unternehmen verweigern, die aufgrund überzogener Managerbezüge die | |
| ökonomische Ungleichheit im Land verschärfen.“(4) | |
| Worauf soll das Ganze hinauslaufen? Auf einen tatsächlich „Höchstlohn“, d… | |
| auf den Mindestlohn bezogen ist. Ein solcher Maximalwert wäre ohne Weiteres | |
| über eine progressive Einkommensteuer durchzusetzen, wie es Felix Adler | |
| schon vor hundert Jahren vorgeschlagen hat. Wenn als Maximum zum Beispiel | |
| das 10- oder 25-Fache des nationalen Mindestlohns festgelegt wäre, könnten | |
| alle Einkommensanteile, die darüber hinausgehen, zu 100 Prozent | |
| weggesteuert werden. | |
| Ein solcher Höchstlohn hätte praktisch von Anfang an die Wirkung, eine | |
| solidarische Volkswirtschaft zu fördern und zu tragen. Die wohlhabendsten | |
| Teile der Gesellschaft würden zum ersten Mal ein echtes eigenes Interesse | |
| am Wohlergehen der ärmsten Schichten entwickeln. Denn die Einkommen der | |
| Reichen und Mächtigen würden nur ansteigen, wenn zuvor die Einkommen der | |
| ärmsten und schwächsten Bürger zugelegt hätten. | |
| Eine derart hochfliegende Vision galt vor der Occupy-Wallstreet-Bewegung | |
| als pure Phantasmagorie. Aber jetzt nicht mehr. Dass die Zeiten sich | |
| ändern, zeigt der Aufsatz, den vor Kurzem zwei angesehene Wissenschaftler | |
| in der New York Times publiziert haben.(5) Darin plädieren der Jurist Ian | |
| Ayres (Yale University) und der Ökonom Aaron Edlin (Berkeley University) | |
| für eine Steuerreform, die das Durchschnittseinkommen der reichsten | |
| US-Bürger auf das 36-Fache des nationalen Medianeinkommens begrenzen | |
| würde.(6) Die Idee eines Mindestlohns hat sich in den USA voll | |
| durchgesetzt. Vielleicht gilt das eines Tages auch für sein Gegenstück. | |
| Fußnoten: | |
| (1 )Felix Adler, „Social Reform: Proposing a System of Grand Taxation“, | |
| "New York Times, 9. Februar 1880. | |
| (2) News of the Week, in: "The Public: An International Journal of | |
| Fundamental Democracy, New York, 28. September 1917. | |
| (3) Heute betragen die Managerbezüge in Großkonzernen durchschnittlich das | |
| 325-Fache dessen, was Arbeiter und Angestellte verdienen. | |
| (4) Institute for Policy Studies, „Executive Excess 2007: The Staggering | |
| Social Cost of U.S. Business Leadership“, 14th Annual CEO Compensation | |
| Survey, Washington D. C., 29. August 2007. | |
| (5) Ian Ayres und Aaron Edlin, „Don’t Tax the Rich. Tax Inequality Itself�… | |
| "New York Times, 18. Dezember 2011. | |
| (6) Das Medianeinkommen ist das Einkommen, bei dem die eine Hälfte aller | |
| Einkommensbezieher mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Es liegt | |
| niedriger als das Durchschnittseinkommen, das aufgrund der extremen | |
| Ungleichverteilung zwischen Armen und Reichen irreführend ist. | |
| Aus dem Englischen von Niels Kadritzke / [1][Le Monde diplomatique] vom | |
| 10.2.2012 | |
| 4 Mar 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.monde-diplomatique.de | |
| ## AUTOREN | |
| Sam Pizzigati | |
| ## TAGS | |
| Reichensteuer | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Mythos Spitzensteuersatz: Steuerrabatt für Superreiche | |
| Eigentlich gilt: Je mehr Einkommen, desto höher der Steuersatz. Doch wenn | |
| Reiche superreich werden, zahlen sie anteilsmäßig weniger. | |
| Volkswirt über Krisen und Steuern: „Wir werden alle mehr Steuern zahlen“ | |
| Die Abgaben der Wohlhabenden sollten steigen, sagt Ökonom Tony Atkinson. | |
| Das allein werde aber nicht reichen, um die verschuldeten Staaten zu | |
| entlasten. |