# taz.de -- Jörg Baberowskis "Verbrannte Erde": Mord im Plansoll | |
> Jörg Baberowski erzählt in "Verbrannte Erde" suggestiv und gekonnt die | |
> Geschichte des stalinistischen Terrors. Die Erklärungen für die Gewalt | |
> bleiben dünn. | |
Bild: Stalins Tod 1953 war ein historischer Einschnitt, der nur mit 1917 und 19… | |
Am 3. Juli 1937 ließ Stalin ein Telegramm an die Parteiführer in den | |
Provinzen verschicken. Antisowjetische Elemente müssten verhaftet und | |
erschossen werden. Die Provinzfürsten übertrumpften sich fortan mit | |
Mordzahlen, um so dem vermuteten Willen Stalins zuzuarbeiten und | |
Verlässlichkeit zu beweisen. Allerdings reichte das nicht. Ende Januar 1938 | |
verfügte Stalin, es müssten noch 48.000 Volksfeinde mehr getötet werden. | |
In Moskau wurden Blinde und Invalide umgebracht, in Leningrad Taubstumme, | |
andernorts frühere Soldaten der zaristischen Armee. Es gab keine Prozesse, | |
keine Verteidiger. Es war ein fast wahlloses Morden. Wer zu einer | |
Minderheit zählte, war in erhöhter Gefahr. „Vernichten Sie diesen | |
polnischen Spione-Dreck“ schrieb Stalin am 14. 9. 1937 an den NKWD-Chef | |
Jeschow. Im Donbass wurden daraufhin alle 3.628 griechischstämmigen | |
Sowjetbürger verhaftet, 3.470 ermordet. Die Mordplanziffern mussten erfüllt | |
werden. Mindestens 700.000 wurden in knapp zwei Jahren deportiert, 681.000 | |
ermordet, wahrscheinlich weit mehr. | |
Die Ereignisse von 1937 erscheinen uns noch immer monströs, fast | |
einzigartig in Maßlosigkeit und Willkür. In Jörg Baberowskis | |
Gewaltgeschichte von 1917 bis 1953 sind sie nur ein Kapitel. Der Große | |
Terror war eine Verdichtung, keineswegs einzigartig. Die Kampagne gegen die | |
Kulaken, die ein von oben verordneter Bürgerkrieg gegen die ukrainischen | |
Bauern war, forderte 1932 weit mehr Opfer. Auch nach 1938 ging das Morden, | |
auf niedrigerem Niveau, weiter. | |
All das ist nicht neu. Doch Baberowski versteht es, diese Abfolge von | |
Gewaltexzessen souverän und genau zu erzählen. Die Perspektiven wechseln: | |
Stalins paranoider Blick aus dem Kreml, das Geschehen in den Provinzen, die | |
wenigen Dokumente, die die Exzesse aus dem Blick der Opfer schildern. Es | |
bedarf einer nicht zu unterschätzenden Kunstfertigkeit, diese schier | |
endlose Folge von Mord und Tod in eine Erzählung zu verwandeln. Diese | |
Fokussierung auf den Terror führt drastisch vor Augen: Es gibt, im Ausmaß | |
der Gewalt, keinen Unterschied zwischen Nationalsozialismus und | |
Stalinismus. | |
## Kunstfertiges Erzählen | |
Baberowskis Schlüsselfrage lautet: „Woher kam die Gewalt, mit der die | |
Machthaber die Gesellschaften des Vielvölkerstaates überzogen?“ Ein Grund | |
war die Schwäche der Bolschewiki, die vor 1917 nicht mehr als eine ein paar | |
tausend Mann starke Politsekte waren. Im Bürgerkrieg erprobten sie | |
erfolgreich den Massenmord als Herrschaftsmittel. In den 20er Jahren waren | |
sie eine Art verzweifelte Kolonialisatoren, die ahnten, dass ihre Macht nur | |
bis zur Moskauer Stadtgrenze reichte. | |
Die Gewalt war, so Baberowski, die Essenz ihrer Herrschaft. Sie war kein | |
Ergebnis des westlichen Marxismus und schon gar nicht, wie Timothy Snyder | |
in „Bloodlands“ nahelegt, katalysiert durch den Krieg der Nazis. Sie war | |
zwingendes Ergebnis des Krieges, den die Bolschewiki gegen das Volk | |
führten, gegen das von „Gewalt und Alkohol regierte“ (Baberowski) russische | |
Dorf. Dieser Krieg verlief in Wellen – aber es blieb immer ein Krieg. Auch | |
die Neue Ökonomische Politik (NÖP) in den 20er Jahren, als der Terror fast | |
verschwand und die Märkte florierten, war nur eine „Inkubationszeit des | |
Stalinismus“. Denn niemals hätte die KP die Macht aus den Händen gegeben. | |
So war es – allerdings zeigt ein Blick nach China, dass es Wege gibt, | |
Parteiherrschaft und Märkte zu verbinden. Für diese Möglichkeit stand in | |
der Sowjetunion 1929 Bucharin. Auch wenn man vorsichtig mit historischen | |
Konjunktiven sein sollte, hier ist er angebracht: Ohne Stalins Sieg über | |
Bucharin hätte es die Gewaltexplosionen der 30er Jahre so nicht gegeben. | |
Dass es, wenn auch vage, Alternativen gab, bleibt in „Verbrannte Erde“ | |
unterbelichtet. | |
Denn der Terror war für Baberowski zwangsläufig. Er wurzelte „in den | |
Erfahrungen und der mentalen Zurichtung der Bolschewisten“. Stalins | |
Psychopathologie und Bösartigkeit rückt so ins Zentrum. In Stalin, dem | |
georgischen Bankräuber, verdichtet sich der „in Lederjacken gehüllte | |
Machokult des Tötens“. Das ist die schillernde Kernthese diese Buches. Sie | |
bleibt indes nur eine Skizze: „Verbrannte Erde“ entwirft keine | |
Psychohistorie des Stalinismus. Die Signalworte „Machokult“ und | |
„Gewaltkultur“ sind eher Beschreibungen als Erklärungen. | |
Irritierend wirkt, dass der Erste Weltkrieg, der die soziale Welt Russlands | |
zerriss, in diesem Gewaltpanoptikum nicht vorkommt. Das ist kein Zufall: | |
Denn es würde die Grundthese – bürgerliche Ordnung hier, entfesselte | |
Gewaltstürme dort – verwirren. Der Erste Weltkrieg kam aus jener | |
bürgerlichen Ordnung, die wir als Gegenwelt zum Schlachthaus verstehen | |
sollen. | |
## Modernisierung durch Terror | |
Alle Modernekritik, etwa von Zygmunt Bauman, hält Baberowski als | |
Erklärungsmuster für dieses Gewaltregime für „Unfug“. Das ist flott | |
formuliert, zu flott. Die Frage nach der Moderne, die forsch für erledigt | |
erklärt wird, kommt durch die Hintertür wieder herein. 1922 war die | |
Sowjetunion eine Art Failing State, regiert von Chaos und lokalen Warlords. | |
Aus diesem Torso wurde in 20 Jahren eine industriell hochgerüstete | |
Militärmacht. Aber wie? War der Terror wirklich vor allem aus Stalins | |
Paranoia geboren? Aus der Distanz betrachtet scheint die irrationale Gewalt | |
auch ein Moment der Modernisierung gewesen zu sein, das die Zentren | |
barbarisierte und das Land zwangszivilisierte. Keine Theorie ist jedenfalls | |
auch keine Lösung. | |
Trotz einiger Kurzschlüsse erzählt „Verbrannte Erde“ eindringlich. Man | |
begreift, dass Stalins Tod 1953 ein historischer Einschnitt war, der nur | |
mit 1917 und 1990 vergleichbar ist. Die Lagertore des Gulag wurden | |
geöffnet. Fortan konnte jeder, vom Politbüromitglied bis zum Taxifahrer, | |
vom Geheimdienstmann bis zur Fabrikarbeiterin, sicher sein, sich morgens | |
nicht in einem Folterkeller wiederzufinden. Das war ein Unterschied ums | |
Ganze. | |
„Chrustschows Entstalinisierung war eine Kulturrevolution, eine | |
zivilisatorische Leistung, die das Leben von Millionen veränderte“, | |
schreibt Baberowski. Es war das Ende einer allgegenwärtiger Gewalt. | |
## Jörg Baberowski: "Verbrannte Erde". C. H. Beck Verlag, München 2010, 606 | |
Seiten, 29,95 Euro | |
9 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Stefan Reinecke | |
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