# taz.de -- Protest gegen Hochspannungsleitung: Bildungswutbürger unter Strom | |
> Rund 20 Bürgerinitiativen in Hessen und Niedersachsen wehren sich gegen | |
> eine neue Hochspannungstrasse. Sie fürchten Elektrosmog und fordern eine | |
> unterirdische Lösung. | |
Bild: Bürger pro Erdkabel: Demonstration von Hochspannungsleitungsgegnern 2011… | |
KREIENSEN taz | Bei Wolfgang Schulze ist es gemütlich. Dicke, rote Sessel | |
im Wohnzimmer, dunkles Holz prägt die Wände. Aber der Blick nach draußen | |
hat etwas Beunruhigendes, findet der Hausherr. | |
Das bürgerliche Zweifamilienhaus aus den 1970er Jahren steht erhöht am Hang | |
des Vorharzes, davor erstreckt sich das Tal der Leine. Wer auf dem Balkon | |
steht und nach rechts schaut, der sieht ein Dutzend Stromkabel, die an | |
niedrigen Masten über den Nachbarhäusern hängen. „Bahnstrom“, sagt Schul… | |
der pensionierte Eisenbahner: Elektrizität für die Zuglinie unten am Fluss. | |
700 Meter entfernt verläuft die ICE-Strecke zwischen Hannover und München. | |
Auf Dutzenden Pfeilern zieht sich die Brücke durch das Tal. | |
Und jetzt wollen sie auch noch diese neue Leitung bauen. Die Masten der | |
Höchstspannungsleitung stünden dann doppelt so hoch im Tal wie die | |
Bahntrasse, sagt Schulze. 70 Meter hoch sollen sie werden, so hoch wie ein | |
Haus mit 16 Stockwerken. Dagegen kämpft der 64-Jährige. | |
Bund, Land und die Betreiberfirma sagen, die rund 200 Kilometer lange | |
Trasse, die aus der Region Braunschweig ins hessische Mecklar führen soll, | |
sei notwendig, um Strom von Nord- nach Süddeutschland zu leiten. | |
Schulze und seine Mitstreiter glauben das nicht. Entlang der künftigen | |
Trasse hat sich eine breite Protestbewegung entwickelt – wahrscheinlich die | |
mit dem stärksten Widerstand gegen ein Trassenprojekt in Deutschland. Rund | |
20 Bürgerinitiativen mobilisieren mittlerweile entlang der Strecke. Der | |
Protestverein, den Schulze mitorganisiert, heißt Bürger pro Erdkabel. | |
## „Keine Verhinderer“ | |
Paradoxerweise stößt damit jetzt eine gute Sache auf Widerstand, die die | |
Mehrheit der Bürger in Umfragen und Wahlen durchaus unterstützt: Auf | |
nationaler Ebene wollen die meisten Menschen die Energiewende. Doch im | |
konkreten Fall, wenn es um ihr unmittelbares Umfeld geht, betrachten viele | |
Bürger sie dennoch als feindliches Projekt. | |
„Wir sind keine Verhinderer“, sagt Peter Gosslar, der Vorsitzende des | |
Erdkabelvereins. Natürlich werde Strom gebraucht, schließlich sei | |
Deutschland ein moderner Staat. Aber diese neue Hochspannungsleitung? Nein, | |
die lehne man ab. Gosslar ist hochgewachsen, breit. Im Berufsleben leitete | |
der Vereinsvorsitzende ein mittelständisches Maschinenbauunternehmen. | |
Danach amtierte er als Richter am Finanzgericht in Hannover. | |
Das niederländische Staatsunternehmen Tennet, das die Leitung plant, habe | |
den Bedarf nicht eindeutig nachgewiesen, erklärt Gosslar. „Vielleicht | |
besteht Bedarf für die Leitung, vielleicht aber auch nicht. Wir wissen es | |
einfach nicht.“ Er argwöhnt, dass die Leitung auch dazu dienen solle, | |
später den Strom neuer Kohlekraftwerke von der Küste nach Süddeutschland zu | |
schicken. Und eine Leitung für derart schmutzige Energie sei völlig | |
indiskutabel. | |
## Magnetfeld lässt Neonröhren leuchten | |
Von einer der vielen Protestaktionen des Erdkabelvereins haben die | |
Aktivisten eindrucksvolle Fotos zur Hand. Darauf sind 50 Bürger zu sehen, | |
die in der Dämmerung auf einem Acker unter einer Stromleitung stehen und | |
Neonröhren in die Luft recken. Diese leuchten hell – ganz ohne Steckdose. | |
Das Magnetfeld der Überlandleitung lässt das Gas in den Röhren erstrahlen. | |
Gosslar und seine Mitstreiter wollen mit diesem Versuch die Strahlung der | |
künftigen 380-Kilovolt-Trasse demonstrieren, ihr Magnetfeld, den | |
„Elektrosmog“. Wie für fast alles in Deutschland gibt es zwar auch für | |
diese Kraftfelder Grenzwerte und Regelungen für den Abstand von | |
Wohnhäusern. Die Betreiberfirma muss beides einhalten. Aber es bleibt ein | |
diffuses Unwohlsein. | |
Auf den Punkt bringt es Ralf Messerschmidt, Kassenwart des Vereins, dessen | |
Haus wenige Meter entfernt von der schon existierenden Bahnstromleitung | |
steht: Seine Frau sei vor Jahren an Krebs erkrankt. Auch in der | |
Nachbarschaft gebe es mehrere Fälle von Krebs. Wer weiß, ob die Ursache | |
nicht der Strom sei, der tagein, tagaus über ihre Köpfe hinwegfließt? | |
## „Keine Versuchskaninchen“ | |
Über dieses medizinische Problem gibt es viele Kontroversen und wenige | |
klare Aussagen. Auch die Bürger pro Erdkabel können keinen Mediziner in den | |
Zeugenstand rufen. Trotzdem fasst Wolfgang Schulze die Angelegenheit so | |
zusammen: „Wir wollen keine Versuchskaninchen sein.“ | |
Die Kreienser verlangen, dass das Stromkabel mit etwa der kompletten Länge | |
unter die Erde verlegt wird. Ein Verfahren, das dies ermöglicht, existiert: | |
die Hochspannung-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) – eine Alternative zur | |
herkömmlichen und meist verwendeten Wechselstromtechnik (siehe Kasten). | |
Mittlerweile ist die Planung der Trasse beim Raumordnungsverfahren | |
angekommen, der grobe Verlauf der Strecke steht fest. Gosslar und seine | |
Mitstreiter sind höchst unzufrieden, auch mit den unzulänglichen | |
Beteiligungsmöglichkeiten des Energieleitungsgesetzes. Sie glauben nicht, | |
dass ihre Argumente eine Rolle gespielt haben, trotz zehntausender | |
schriftlicher Einwendungen und öffentlicher Erörterung. „Das Unternehmen | |
Tennet und die Landesregierung haben unsere Vorschläge völlig ignoriert. So | |
werden wir allmählich zu Wutbürgern“, sagt der pensionierte Bahnbeamte | |
Schulze. „Bildungswutbürger“, ergänzt Exmanager Gosslar feinsinnig. | |
Beide lieben ihre Heimat, die Landschaft, in der sie leben. Wenn sie über | |
die Hügel spazieren, kann der Blick schweifen über sanfte Wellen aus | |
Kuppen, Hängen, Wäldern. Deutsches Mittelgebirge, Fachwerkhäuser. Und in | |
Bad Gandersheim die Stiftskirche, einen massiven romanischen Bau mit | |
kleinen Fenstern und burgähnlichen Türmen, rund 1.100 Jahre alt. „Die | |
Masten der Stromleitung wären doppelt so hoch wie der Kirchturm“, sagt | |
Schulze. Die Heimat ist klein, die Bedrohung groß. | |
[1][„Stromwechsel“] heißt das neue taz-Buch, aus dem der oben stehende Text | |
entnommen ist. Der Band erzählt in zehn Kapiteln, wie Bürger und Konzerne | |
um die Energiewende kämpfen. Die taz-Autoren Hannes Koch, Bernhard Pötter | |
und Peter Unfried zeigen darin, dass die Energiewende mit dem Atomausstieg | |
längst nicht abgeschlossen ist. Das Buch ist im Westend-Verlag erschienen, | |
hat 182 Seiten und kostet 12,99 Euro. | |
12 Mar 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.amazon.de/Stromwechsel-B%C3%BCrger-Konzerne-Energiewende-k%C3%A4… | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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