# taz.de -- Frühkindliche Bildung in Bremen: Delphine auf dem Deutsch-Parcours | |
> Im Stadtteil Buntentor in Bremen hat eine Grundschule mit umliegenden | |
> Kitas die Spaltung der Institutionen, die für die frühkindliche Bildung | |
> verantwortlich sind, überwunden. | |
Bild: Lernen miteinander: Grundschul- und Kindergartenkinder auf dem Deutsch-Pa… | |
BREMEN taz | Es ist ein normaler Dienstag in der Grundschule am Buntentor. | |
Kinder aus umliegenden Kitas sind da – zum „Deutsch-Parcours“. Zwölf Tis… | |
sind in einem großen Kreis aufgebaut, die „Delphine“ – das sind | |
Grundschulkinder – stehen hinter den Tischen und warten auf die | |
Kindergartenkinder. Die kommen zu einem spielerischen Wettbewerb: An jedem | |
Tisch ist eine kleine Aufgabe zu lösen, und auf einem Zettel notieren die | |
„großen“ Kinder, was die Kleinen geschafft haben. Rund 60 Kinder singen | |
zusammen das Lied „Alle Kinder wollen lesen – Indianer und Chinesen“, und | |
gehen dann konzentriert ihrer Arbeit nach. | |
„Können Sie unterscheiden, wer hier Erzieherin ist und wer | |
Grundschullehrerin?“, fragt Fridolin Sickinger fast stolz. Nein, man kann | |
es nicht. Hier lernen die Kinder so, als gäbe es die Spaltung zwischen den | |
Behörden nicht, die auf der einen Seite die Kitas, auf der anderen die | |
Grundschulen organisieren. Diese Spaltung ist nicht nur unsinnig, sie ist | |
behindernd, da ist sich Sickinger sicher. Mit dem Modellprojekt Buntentor | |
will er zeigen, dass es auch anders geht. Die Kindergärten und die | |
Grundschule des Stadtteils hat er schon überzeugt, die Leiterin der | |
Grundschule, Meike Baasen, arbeitet seit Jahren zäh an dem Projekt. | |
Sickinger ist ein Mann der leisen Töne. Von Beruf ist er Erziehungsberater | |
im Bremer Amt für soziale Dienste. Einen Teil seiner Arbeit betreibt er wie | |
ein Hobby: frühkindliche Bildung. Als Psychologe weiß er, dass scharfe | |
Kritik zu Abwehrreflexen führt. | |
Warum ist die institutionelle Spaltung zwischen Kindergarten und Schule so | |
fatal? Sickinger würde das vermutlich nie so deutlich sagen, weil es so | |
negativ klingt: Das Problem ist, dass eine Spaltung in den Köpfen der | |
pädagogischen Expertinnen erzeugt wird. Das System produziert zu seiner | |
Legitimation die entsprechenden Ideologien: Kindergartenkinder spielen, | |
Schulkinder lernen, das ist das Muster. Mit dieser Begründung wird die | |
Ausbildung für Erzieherinnen in Kindergärten als deutlich geringere | |
Qualifikation konzipiert. An den Unterschieden der Bezahlung für | |
Erzieherinnen und LehrerInnen ist abzulesen, wie unterschiedlich die | |
Gesellschaft die Arbeit in den beiden Institutionen einschätzt. Aber dieser | |
Statusunterschied ist Gift für die pädagogische Arbeit. Erzieherinnen | |
müssen genauso gut verstanden haben, wie Kinder Mathematik lernen. Und | |
Grundschullehrerinnen müssen die Bedeutung von Singen und Musik für die | |
elementare Pädagogik ernst nehmen. | |
Die institutionelle Spaltung behindert die frühkindlichen Bildungsprozesse, | |
sagt Sickinger. Sie spiegelt ein völlig überholtes Verständnis von Lernen | |
wider. Und das hat katastrophale Folgen: Selbst eine gute Schule kann kaum | |
nachholen, was im vorschulischen Alter versäumt wurde. „Es gab und gibt die | |
unpräzise Diskussion über spielerisches versus kognitives Lernen, die | |
nichts klärt und das Problem verklebt“, erklärt Sickinger. Die neue | |
Entwicklungspsychologie spricht von „intuitivem Lernen“, das für kleinere | |
Kinder typisch ist, das basiert auf neurophysiologisch verankerten | |
Programmen. Kleine Kinder sind Super-Lerner. Sie fangen zum Beispiel ganz | |
von alleine an, Muster zu legen, weil sie Ordnungssysteme lieben. Das ist | |
evolutionsbiologisch begründet. | |
„Wichtig ist nun, was an Resonanz aus der Umwelt kommt, wenn das | |
Entwicklungsinteresse erwacht“, erklärt Sickinger. Kinder brauchten dann | |
die „Ko-Konstruktion“ der Erwachsenen, das geeignete Material, die | |
Ermutigung, das Vorbild, die Herausforderung. „Und dann gehen die Kinder | |
langsam von diesem intuitiven Lernen, das sehr viel Schwung hat, das | |
widerstandsfähig ist gegen Störungen, in die Übergangszone, in der sich | |
intuitives Lernen und bewusstes Lernen mischen.“ Ein moderner | |
„Bildungsplan“ müsse die Zeit von null bis zehn Jahren als Einheit | |
beschreiben. „Es gibt keinen Tag X, an dem Schulreife eintritt und der | |
Übergang vom System Kindergarten ins System Schule Sinn hat“, ist Sickinger | |
überzeugt. | |
Man muss diesen Hintergrund verstehen, um zu begreifen, wie elementar das | |
ist, was in dem Deutsch-Parcours am Buntentor passiert. Es ist ein kleines | |
Bildungsspiel, die Kindergartenkinder sind vorbereitet auf die Fragen, die | |
ihnen die Grundschüler stellen. Sie sollen den Test schaffen. Auf einem | |
Tisch liegen Karten mit Tierbildern – „Was klingt vorne gleich?“, ist die | |
Aufgabe. Für die Kindergartenkinder ist das ein Laut-Spiel. Für die | |
Grundschule ist es die Voraussetzung für jegliches Laut-Differenzieren, | |
also auch für das Lesenlernen. Die Kita-Kinder sollen Reime finden, Silben | |
hüpfen und klatschen. An einem Tisch müssen sie die einzelnen Buchstaben | |
ihres Namens aus einer großen Liste herausfinden und einkreisen. | |
Es gibt einen Parcours mit vergleichbaren Spielen für eine „Reise in das | |
Matheland“. Es soll einen dritten geben für Naturerkundung. Der Witz dabei | |
klingt so einfach: „Kitas und Grundschule stimmen die Inhalte des Parcours | |
ab.“ Warum ist das so außergewöhnlich? Weil Grundschullehrerinnen und | |
Erzieherinnen sich mit Misstrauen und Konkurrenzdenken begegnen. Am | |
Buntentor haben sich Erzieher und Lehrer gegenseitig wertschätzen gelernt. | |
Sickinger hat ein Hilfsmittel erfunden, das die Aufmerksamkeit des Kindes | |
auf sein eigenes Lernverhalten konzentriert: einen Entwicklungsstern. „Das | |
ist ein Stern, den Kinder anmalen. Die Zacken stehen für Fähigkeiten, im | |
Kindergarten zum Beispiel: Ich kann manchmal ruhig sitzen, oder: spielen | |
und bauen.“ Die Kinder selbst beschreiben an diesem Stern im Gespräch mit | |
der Pädagogin ihre Fähigkeiten – und überlegen, was sie demnächst lernen | |
wollen. | |
Nach zwei Stunden Deutsch-Parcours wissen die Schulkinder vom Buntentor, | |
was sie gelernt haben, seitdem sie nicht mehr in der Kita sind. Und die | |
Kita-Kinder ahnen, was sie auch einmal alles können wollen. | |
19 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
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