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# taz.de -- Journalistische Verantwortung: Eine für alle
> Wozu Journalismus? Nach einem sonntaz-Artikel hat sich das Leben von
> Mariam Blal geändert. Die Autorin des Textes antwortet einer Leserin.
Bild: Darf bald umziehen: Mariam Blal im Januar im Flüchtlingsheim.
Mariam Blal, ein Flüchtlingskind, acht Jahre alt, in Deutschland geboren.
Ihre Mutter hat Algerien bereits 2001 verlassen, beide wohnen bis heute in
einem Flüchtlingsheim im mecklenburgischen Parchim. Sie haben ein einziges
Zimmer mit achtzehn Quadratmetern, nachts ist es häufig laut, Mariam hat
keinen Schreibtisch für ihre Hausaufgaben, die zweite Klasse muss sie
voraussichtlich wiederholen. Vor einem Jahr wurde bei ihr eine Epilepsie
attestiert, laut mecklenburgischem Gesetz müsste sie allein aufgrund ihrer
Krankheit in einer Wohnung untergebracht werden. Die [1][sonntaz hatte am
11. Februar] über Mariams Geschichte berichtet.
Etwa zehn Tage später kam der Bescheid: Nun muss Mariam nicht mehr warten,
auf ihr eigenes Zimmer, in einer richtigen Wohnung, mit einem Klo und einer
Küche nur für sie und ihre Mutter. Na, vielleicht ein bisschen noch, es
gibt Papierkram zu erledigen. Aber was sind ein paar Wochen nach über acht
Jahren im Flüchtlingslager.
Der Brief kam nicht vom Sozialamt, das Mutter und Tochter eine Wohnung
hätte zubilligen können. Nein, gleich vom Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge: ein Abschiebungsverbot für Algerien. Das bedeutet, dass die
beiden automatisch eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, für sie ist das
der Lottogewinn: Arbeitserlaubnis, Wohnung und bei Bedarf soziale
Leistungen vom Staat.
Ob diese Entwicklung etwas mit der sonntaz-Reportage zu tun hat? Es wäre
vermessen, das als Tatsache zu sehen. Aber: Während der wochenlangen
Recherche habe ich die verantwortlichen Mitarbeiter im mecklenburgischen
Innenministerium mehrmals um Gespräche gebeten.
Zurück kamen nichtssagende E-Mails. Zwei Tage nach Erscheinen der
Geschichte ruft der Ministeriumssprecher an – auf meinem Handy. Das sei
aber wirklich traurig mit Mariam. Er sagt, da müsse was passieren, aber
schnellstens, er werde sich kümmern.
## Untätig, bis es ihnen aus der Zeitung entgegenschreit
Diese scheinheilige Haltung kann einen sehr wütend machen. Auch mich hat
sie wütend gemacht. Die zuständigen Politiker und Beamte wissen meist von
dem Missstand, ignorieren ihn, bis er ihnen schwarz auf weiß aus der
Zeitung entgegenschreit – und dann tun sie überrascht?
Es mag naiv sein, sich darüber aufzuregen. Trotzdem. Der Druck der
Öffentlichkeit wächst, und dennoch folgt nur ein kleiner kosmetischer
Eingriff. Die beiden Betroffenen bekommen, was ihnen zusteht, die Zeitung
vermeldet es. Ende gut?
Ältere und erfahrenere Kollegen winken ab, so läuft es doch immer, sagen
sie. Ich als Berufsanfängerin frage mich: Was genau bewirken Journalisten
eigentlich? Verändern sie ein Einzelschicksal? Ja, vielleicht. Manchmal.
Aber was ist mit dem Rest? Wie viele andere Flüchtlingskinder in
Deutschland leben so wie Mariam – attestiert krank, und dennoch jahrelang
im Flüchtlingsheim untergebracht? Aus den Behörden heißt es bis heute,
solche Zahlen würden nicht erfasst. Vielleicht stimmt das. Vielleicht
nicht.
## Wieviel Distanz ist überhaupt möglich
Was genau ist überhaupt meine Rolle, wenn ich nicht nur am Schreibtisch
recherchiere, sondern mehrere Tage vor Ort bin, den Protagonisten sehr nahe
komme? Wie wahre ich Distanz, trotz aller Empathie? Ein Journalist muss
immer kritisch bleiben, allen Seiten gegenüber, er darf nicht alles
glauben, was erzählt wird. Bei einem Mädchen wie Mariam fällt das schwer.
Wie jedes Kind wurde sie bei der Geburt in ein Leben geworfen, für das sie
nichts kann. Aber wie jedes Kind ist sie direkt, sie sagt, wenn sie keinen
Bock hat auf blöde Fragen. Sie sieht sich nicht als Opfer. Und wenn sie
redet, ist sie knallehrlich. Natürlich wächst da mit jeder Stunde der
Beschützerinstinkt, es ist ja auch eine Sauerei, wenn Gesetze nicht befolgt
werden und Kinder darunter leiden.
Und heute? Wir telefonieren regelmäßig, aber immer seltener. Dass ich noch
nicht, wie versprochen, wieder nach Parchim gefahren bin, nagt an mir. Aber
es gibt neue Themen, neue Geschichten. Wie wird es in ein paar Jahren sein,
wenn ich, wie andere meiner Kollegen, eine ganze Reihe an ehemaligen
Protagonisten habe?
Vor einigen Tagen hat Mariam ein Paket in ihre Grundschule bekommen. Eine
taz-Leserin hatte Hello-Kitty-Sachen reingelegt, in Rosa natürlich. Was
Mariam Blal mag: Rosa. Was sie sich wünscht: Alles in Hello Kitty. So stand
es vor einigen Wochen in der sonntaz. Ja, Geschichten können ein Leben
verändern, im Kleinen, und manchmal im Großen. Das System dahinter
verändern sie nicht, genauso wenig das Leben aller anderen
Flüchtlingskinder.
Wenn ich mich entscheide, über Mariam zu schreiben, entscheide ich mich
automatisch gegen die, die ebenfalls krank sind und im Flüchtlingslager
leben. Es ist nicht meine Aufgabe, alle Flüchtlingskinder zu retten. Hart,
und traurig. Aber wahr. Themen haben im Journalismus Konjunktur. „So eine
ähnliche Geschichte hatten wir doch erst vor ein paar Monaten!“ Ein Satz,
der oft fällt in Redaktionen.
30 Mar 2012
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## AUTOREN
Emilia Smechowski
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