# taz.de -- Kommentar Stalker-App: Schlampenlogik im Sozialen Netz | |
> Die App „Girls around me“ nutzt öffentlich abrufbare Daten um zu zeigen, | |
> welche Frauen sich wo aufhalten. Sie offenbart, wie im Netz Identitäten | |
> zerlegt und verkauft werden. | |
Bild: Offline-Protest gegen das „Selbst Schuld“-Argument. | |
„Girls in Deiner Nähe!“ Womit jeder zweite miserable Sexcam-Anbieter wirbt, | |
genau das hat kürzlich eine App aus der Pornografie in die Wirklichkeit | |
geholt: „Girls around me“ ist eine Anwendung, die es dem Nutzer dank der | |
Auswertung öffentlicher Daten erlaubt, Örtlichkeiten mit für ihn besonders | |
interessanten Frauen in seiner Nähe zu finden. | |
Ist eklig, entsprechend fiel das Medienecho aus. [1][Die New York Times | |
titelte], das sei eine App mit einer neuen Qualität von Gruseligkeit. Apple | |
reagierte und warf die App aus seinem Store. | |
Die App erinnert nicht von ungefähr an iSonular: Ein Dienst, der es Anglern | |
und Jägern erlaubt, die erfolgsversprechendsten Orte und Tageszeiten für | |
ihr Hobby herauszufinden. Über „Girls around me“ konnte man zwar auch | |
Männer finden, aber sogar die Programmierer hielten dieses Szenario | |
offenbar für den Ausnahmefall – hätten sie den Dienst „People around me“ | |
genannt, wahrscheinlich gäbe es ihr Produkt dann noch im App-Store. | |
So aber regt sie ein paar ekelhafte Fantasien an, wenn man sich überlegt, | |
wer so etwas nutzen könnte; und also hat sich ziemlich schnell die | |
Beschreibung „Stalker-App“ durchgesetzt. | |
## Wiederkehr des zynischen alten Slut-Arguments | |
„Girls around me“ kombinierte ausschließlich öffentlich zugängliche, für | |
jeden einsehbare Daten. Da stellt sich die Frage, ob die Frauen selbst | |
nicht verhindern könnten, zu Freiwild zu werden, wenn sie zurückhaltender | |
mit ihren Daten umgingen. | |
Zurückhaltender als Männer, versteht sich, und das heißt auch: unsichtbarer | |
als sie. Denn Frauen zuzurufen, sie sollten sich halt bei Diensten wie | |
Foursquare nicht anmelden, und wenn doch, dann halt bitte mit allen | |
Risiken, heißt: Entweder ihr werdet unsichtbar, oder ihr habt es halt | |
selbst so gewollt. Es ist die Wiederkehr des zynischen alten | |
Slut-Arguments: Wer einen Minirock trägt, braucht sich über eine | |
Vergewaltigung nicht beklagen. | |
Aber das grundsätzliche Problem sind nicht die Stalker und Vergewaltiger, | |
die sich damit einen digitalen Kompass zulegen könnten. Die sind bloß eine | |
beredte Metapher für das, was gerade flächendeckend passiert: | |
Vergewaltigung als Sinnbild des allgegenwärtigen Kontrollverlustes, der | |
aber nicht von den potenziellen Nutzern ausgeht, sondern von den | |
App-Entwicklern. | |
## Die besten Kinos, Brötchen und Frauen | |
Dazu muss man ein wenig ausholen: Eine Online-Identität ist die Geschichte, | |
die man im Netz von sich erzählt. Idealerweise selbstbestimmt – aber das | |
ist eine Vorstellung, von der man heute sehr weit entfernt ist: Tatsächlich | |
fragmentieren und zerlegen Dienste und Applikationen diese Identität in | |
kleine, marktkompatible Ausschnitte, die man dann weiterverkaufen kann, | |
Einkommensklasse, Beziehungsstatus, Wohnort, Geschlecht. | |
Identität ist online ein Rohstoff, der – zerlegt und aufbereitet – | |
vertrieben wird. Die besten Kinos in Deiner Nähe, die besten Brötchen, die | |
besten Frauen: Das ist ungefähr die gleiche Logik, der Markt macht da | |
keinen Unterschied. | |
Das Dilemma ist also Folgendes: Einerseits braucht man diese Dienste, um | |
online zu kommunizieren, sich sichtbar zu machen und stattzufinden. | |
Andererseits kann man sich nicht sichtbar machen, wenn man beliebig in | |
Einzelteile zerlegt werden kann: in Geschlecht, Einkommen, Interessen, | |
soziales Umfeld, und man am Ende ein völlig zerrissenes, kubistisches | |
Porträt abgibt. | |
Die Kritik an solchen Diensten bleibt immer in der Defensive, wenn er dem | |
Nutzer vorschreiben will, wie er seine Geschichte im Netz zu erzählen hat. | |
Das Credo der Datenschützer ist viel zu oft: Ihr müsst bewusster werden, | |
ihr müsst besser aufpassen, ihr müsst einfach alle viel besser sein als ihr | |
es gerade seid. Sie tun ethisch, sind aber bloß moralisch. | |
Das Problem ist nicht die Offenheit im Internet, sondern die Marktlogik, | |
die einen derart zerreißt. Solang Datenschutz und Kulturpessimisten nicht | |
fortschrittlicher werden und an ihre Kritik eine Absage an den Markt | |
anschließen, bleiben sie Bedenkenträger, mehr nicht. Solang wird man von da | |
auch keine Alternativen erwarten dürfen, nur Belehrung. | |
2 Apr 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://bits.blogs.nytimes.com/2012/03/30/girls-around-me-ios-app-takes-cree… | |
## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Meta | |
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