# taz.de -- 5 Thesen zum Reisen: Wir Globetrottel | |
> Immer schneller, immer öfter um die Welt. Fünf Thesen zu unserer | |
> ungebremsten Reiselust und Reisepraxis und für ein besseres Leben. | |
Bild: Auch beim Reisen herrscht die Schnäppchen-Mentalität. | |
1. Der Konsumismus hat sich durchgesetzt. Konsumismus ist die | |
vorherrschende Haltung zur Welt geworden. H., Oberstudienrätin, machte | |
mindestens eine Fernreise pro Jahr - neben vielen kleinen Trips während | |
ihrer kürzeren Schulferien. Doch das war nur der Anfang ihrer ungebremsten | |
Reiselust. Seit ihrer Pensionierung ist sie nicht mehr zu halten: Indien, | |
Island, Iran, Bali, Thailand, Marokko, Türkei, Israel, Vietnam … | |
Um sich erinnern zu können, wird exzessiv geknipst. Außerdem legt sie Wert | |
auf geschmackvolle Mitbringsel, exotische Kleidung oder ungewöhnlichen | |
Hausrat. Mit ihrem Vorrat an Fotomaterial könnte sie tausende Stunden | |
Diavorträge bestreiten. Kämen ihre Kollegen U., Aktivistin der Grünen, und | |
N., Gewerkschaftsfunktionär, dazu, die jährlich mindestens drei Fernreisen | |
machen, könnten sie ihre letzten Lebensjahre in fremden Fotowelten | |
verbringen - ohne je einen Fuß vor die Tür zu setzen. | |
Keine Reise, die wirklich zufriedenstellt. Die Ruhe bringt. Keine Rede von | |
Glück. Wir kaufen immer schneller und öfter eine Reise und damit etwas, was | |
vielleicht nicht wirklich käuflich ist. Und nichts scheint uns absurder als | |
die Frage nach dem Warum dieser Instantreisen. | |
2. Beschleunigung regiert die Welt. Wir tun es dem Geld gleich, das | |
heutzutage um die Welt rast. Wir surfen von Horizont zu Horizont - immer an | |
der Oberfläche, ohne Tiefgang. Wir kaufen uns schön präsentierte Welten, | |
geleitet von versierten Reiseleitern und globalisierten Veranstaltern. | |
Reisen, die von aller Mühsal, allen Unsicherheiten entschlackt sind. | |
Die Welt ist seit der Industrialisierung auf ein Sechzigstel ihrer | |
ursprünglichen Größe geschrumpft. Zumindest rechnerisch, wenn man die | |
moderne Transportgeschwindigkeit von Menschen und Gütern zu den | |
zurückgelegten Entfernungen ins Verhältnis setzt. Und sie wird auch so | |
wahrgenommen. Heute spricht man von Flugstunden, wenn Distanzen gemeint | |
sind. | |
Konnten die Urlauber der Nachkriegszeit noch gemächlich ihren | |
Erholungssommerurlaub machen, noch halbwegs das Gefühl haben, an den | |
Stränden des Mittelmeers die kostbarsten Wochen des Jahres zu erleben und | |
die Errungenschaften der arbeitenden Bevölkerung zu genießen, so lassen wir | |
uns heute auf nichts mehr ein. | |
Längst ist die Raserei zum ausgedehnten Forschungsgegenstand von | |
Sozialwissenschaftlern geworden. Und hier fragt man sich, ob nicht bereits | |
der "rasende Stillstand" (Paul Virilio) erreicht ist. Führend im | |
zeitdiagnostischen Diskurs ist Hartmut Rosa. Seine sperrige Studie erklärt | |
"Beschleunigung" als strukturbildende Grundtendenz der Moderne. Unmittelbar | |
einleuchtend die Wirkungen des dynamischen Kreislaufs aus Ökonomie, Technik | |
und Kultur, die er beschreibt: Die "Verflüssigungsvorgänge", deren Logik | |
wir inzwischen leben, lässt niemanden davonkommen. | |
"Slipping Slopes", rutschende Abhänge, so charakterisiert Rosa den | |
unsicheren Boden, auf dem sich die postmodernen Individuen bewegten. Eine | |
Unsicherheit, die zunehmend Angst generiere. Die Angst nämlich, von der | |
Gemeinschaft der Dynamischen, Mobilen, der Weltläufigen abgehängt zu | |
werden, abzurutschen zu den "Zwangsentschleunigten", den Ruheständlern, den | |
Rückständigen, den Immobilen. | |
Die Rasenden fürchten jeglichen Stillstand. Und wenn sie ihre persönlichen | |
Grenzen erreichen, dann flüchten sie eher in den Burn-out beziehungsweise | |
die Depression, in die Krankheit unserer Zeit, als bewusst zu | |
entschleunigen. | |
3. Beschleunigung und Konsumismus sind im Tourismus eine innige Verbindung | |
eingegangen. Die Wirtschaft brummt nur dann, wenn ordentlich Produkte | |
gekauft werden. Radfahren mag inzwischen gesellschaftlich im Trend liegen, | |
bedeutend wird es erst, wenn man dafür nach Vietnam fliegt. Meditation mag | |
ohnehin angesagt sein, aber erst auf Bali erlebt man sie authentisch. | |
Reisen ist eine Frage des sozialen Status. Und erst das richtige, das | |
veredelte Produkt macht den heutigen Menschen wichtig. Und wer will das | |
nicht sein? | |
Tourismus maßt sich an, uns jene Sensationen, Gefühle, Authentizitäten, | |
Zugehörigkeiten zu bieten, die wir im heimischen Alltag vermissen. Jedes | |
Reisepaket, das über den Ladentisch geht, ist auch ein Ticket, das uns für | |
die schnelle, dynamische Gesellschaft profiliert. Globetrottel statt | |
Globetrotter. | |
4. Tourismuskritik ist von gestern. Zwar gehören Mäkeleien über Touristen | |
von jeher zum "guten Ton" von Eliten, die sich gern über "Massenhaftigkeit" | |
der niederen Stände mokieren - aber mit der Alternativbewegung kam ein | |
anderer Zungenschlag auf. Den Kritikern der siebziger und achtziger Jahre | |
galten Touristen als dumpfbackige Täter, die auf ursprünglichen | |
Landschaften bzw. den Gefühlen Einheimischer herumtrampeln. | |
Touristen galten aber auch als Opfer, als Verführte der Industrie, die | |
leichtgläubig den Werbebotschaften vom Duft der großen, weiten Welt folgten | |
und sich doch nur abgeschmackte Erlebnisse holten. Tourismus wurde nun als | |
eine Industrie wie jede andere wahrgenommen, die kolossale Umweltschäden | |
verursacht. Entgegen ihrem Image als weiße, saubere Industrie musste sich | |
die Tourismusindustrie sagen lassen, dass sie hemmungslos Land, Leute und | |
Ressourcen verbraucht. Inzwischen sind kritische Stimmen kaum noch hörbar. | |
Übrig blieb die Klima- und Ressourcenthematik. Sie macht heute den Kern | |
jeder Tourismuskritik aus. Sensible, ökobewegte Mittelschichtskreise | |
reagieren darauf mit Versuchen modernen Ablasshandelns, beispielsweise mit | |
einer CO2-Abgabe fürs Fliegen - sofern sie für ihren Urlaub nicht alle fünf | |
gerade sein lassen und ihren ökologischen Fußabdruck schlicht ignorieren. | |
5. Die Qualitätsdiskussion ist in der touristischen Branche angekommen. Es | |
geht wie beim Trinken und Essen um das gute, geläuterte Produkt. Es gibt | |
Reiseveranstalter, die Intensität, Begegnung und Entschleunigung auf ihre | |
Fahnen geschrieben haben und sie dann in der teueren Luxusvariante | |
verkaufen. Und auch in der Tourismusindustrie ist längst die Erkenntnis | |
angekommen, dass künstliche Welten kitschig und auf Dauer langweilig sind. | |
Künstliche Welten werden heute möglichst mit "echtem" Leben gefüllt. | |
Es gibt aber auch Unternehmen, die auf soziale Verantwortung und faires | |
Reisen setzen, die Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit diskutieren. | |
Alternative Veranstalter, bei denen sich die Qualitätsdiskussion nicht im | |
teuren, anspruchsvollen Design der Reise erschöpft. Vor allem dieser | |
Reisemarkt hat sich breit aufgefächert: Die Angebotspalette reicht vom | |
Klettern über den Fotokurs bis zum philosophischen Seminar. | |
Und es gibt Erzählungen - die häufig auf den Bestsellerlisten landen - von | |
der tiefen Befriedigung langsamen Reisens. Der intime Kontakt mit der | |
Wirklichkeit. Glücksuche. Flow. Zeit für Erotik. Zeit für Muße. Und Zeit | |
für Erlebnisse, die sich so als Erfahrungen verankern können. | |
Kein Wunder, dass unter den suchenden Reisenden viele Esoterikanhänger | |
sind, etwa die Pilger des Jakobsweges wie Paulo Coelho, Shirley MacLaine | |
und nicht zuletzt Hape Kerkeling. Ihre Nähe zur "sakralen Zeit" lässt sie | |
souverän gegenüber der Hektik modernen Lebens erscheinen. "Die Einzigen, | |
die derzeit über ein schlüssiges Entschleunigungskonzept verfügen, das sind | |
die Taliban", äußerste sich auch Hartmut Rosa in einem Gespräch. Wollen wir | |
wirklich den Religionsanhängern, egal welcher Coleur, das | |
Entschleunigungsthema überlassen? Oder nicht doch besser die Diskussion | |
über faire Reiseformen, über ein anderes, nachhaltigeres Reisen, | |
beschleunigen? | |
16 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Christel Burghoff | |
Edith Kresta | |
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Globetrotter | |
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