# taz.de -- Buch eines Occupy-Theoretikers: Mit Anarchie wird alles anders | |
> Ist die neue soziale Bewegung die Keimzelle einer freien Gesellschaft? | |
> Das fragt David Graeber in seinem Buch „Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus“. | |
Bild: Reichen anarchistische Organisationsprinzipien aus, um soziale Frustratio… | |
Seit Monaten gilt David Graeber allerorten als „Mann der Stunde“ | |
(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung). Der US-Amerikaner ist | |
Occupy-Vordenker und ehemaliger Professor für Enthnologie an der Yale | |
University. Heute lehrt er in London. | |
Im Mai wird mit „Schulden: Die ersten 5.000 Jahre“ eine Abhandlung über die | |
brutale Macht der Schulden und für den Schuldenerlass erscheinen, die | |
bereits vorab für Furore sorgte. Applaus gab es dafür von ungewohnter | |
Seite: Neben Frank Schirrmacher zeigte sich Thomas Mayer, bis letzte Woche | |
Chefvolkswirt der Deutschen Bank, begeistert. | |
Unter dem Titel „Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum | |
herrschenden System“ (im griechischen Original weit weniger reißerisch | |
„Bewegung, Gewalt, Kunst und Revolution“ betitelt) sind nun sechs Essays | |
auf Deutsch erschienen. Die Sammlung, mit heißer Nadel gestrickt, war 2009 | |
pünktlich zum Staatsbankrott in Griechenland herausgekommen und zu einer | |
Art Bibel der Aufbegehrenden geworden. | |
Einleitend versucht Graeber zu erklären, wie die Aufsätze zusammenhängen. | |
Alle wurden sie zwischen 2004 und 2009 verfasst und stehen in direktem | |
Zusammenhang mit den neuen sozialen Bewegungen, den | |
globalisierungskritischen Protesten ab 1999, die sich gegen Währungsfonds | |
und Weltbank richteten, bis hin zu Occupy Wall Street. Gemeinsam sei ihnen, | |
dass sie überraschend eine große Dynamik entfalteten und schnell wieder | |
verschwanden. | |
„Schock angesichts des Sieges“ nennt Graeber das Phänomen, dass die | |
sozialen Bewegungen immer wieder kleine Siege erzielt hätten – ohne davon | |
zu profitieren. Seine steile These: Die Proteste gegen den WTO hätten den | |
„Freihandel“ blockiert. Ebenso gilt Graeber der Vietnamkrieg als Reaktion | |
auf den Erfolg der Bürgerrechtsbewegung, der „Krieg gegen den Terror“ als | |
Antwort auf den der globalisierungskritischen Bewegung. Aus Angst vor den | |
Graswurzelbewegungen und um diese zu schwächen, zettelten die „herrschenden | |
Klassen“ Kriege an. | |
## Prinzip direkte Demokratie | |
Denn Graeber sieht den Kapitalismus am Wendepunkt: „Es geht um alles oder | |
nichts.“ Längerfristig werde sich der Kapitalismus zwar durch die | |
Vereinnahmung von Konzepten der sozialen Bewegungen wie Nachhaltigkeit oder | |
Dezentralisierung modernisieren. Zwischenzeitlich aber herrsche der | |
Kamikaze-Kapitalismus – „eine Ordnung, die sich ohne zu zögern selbst | |
zerstören würde, falls das nötig ist, um ihre Gegner auszumerzen“. | |
Die sozialen Bewegungen dagegen erprobten Organisationsformen einer | |
staatenlosen und solidarischen Gesellschaft. Tatsächlich sind die | |
Occupy-Proteste trotz ihrer Heterogenität konsequent horizontal | |
organisiert. Der Rekurs auf Prinzipien der direkten Demokratie ist die | |
Schnittmenge der ansonsten zerstrittenen Gruppen. Die Abkehr von der | |
parlamentarischen Demokratie ist ein Massenphänomen geworden und auch die | |
Bereitschaft, partizipative Entscheidungskonzepte zu erproben. Ein | |
Phänomen, das an den Erfolg der Piraten in Deutschland erinnert: Niemand | |
weiß so recht, was sie wollen, das Abrücken von der bisherigen politischen | |
Repräsentation jedoch begeistert. | |
An Fahrt nimmt Graeber im Aufsatz „Die Misere des Postoperaismus“ auf. Toni | |
Negri wirft er vor, mit der Setzung der „immaterialen Arbeit“ (Wissen, | |
Kunst, Innovation) als etwas historisch Neuem ein postmodernes Windei zu | |
produzieren, um die eigene theoretische Rückständigkeit zu kaschieren. Doch | |
ausgerechnet Graeber sieht aus den performativen Gesten der sozialen | |
Bewegungen eine vollkommen andere Gesellschaft entstehen. | |
## Zwischen Mutlosigkeit und Erfolgen | |
Graeber zeichnet das Dilemma der sozialen Bewegungen zwischen dem Bemühen | |
um Bündnisfähigkeit und Radikalität, zwischen Mutlosigkeit und Erfolgen | |
nach. Stark sind die Texte dort, wo er die subjektiven Implikationen der | |
Krise – in diesem Fall auf die Bewegung selbst – herausstellt. Will er | |
allerdings überzeugen, steht ihm seine Plakativität im Weg. Dass ein | |
politischer Wortführer zur Kakofonie der eigenen Ansätze steht, ist | |
bisweilen erfrischend, oft aber auch verstörend. | |
Es ist erstaunlich, womit sich der Anarchist Graeber zufrieden gibt. Als | |
antikapitalistisch gelten ihm alle Proteste, die den Status quo angreifen. | |
Der deutsche Verlag hat das erkannt und mit der Auswahl des Titels | |
„Kamikaze-Kapitalismus“ seinerseits betont, dass es um „Auswüchse“, ni… | |
ums System gehe. Im Klappentext wird auf die Proteste gegen Stuttgart 21 | |
verwiesen. „Ganz normale Menschen“, heißt es, „begehren auf gegen die | |
Selbstherrlichkeit von Wirtschaft und Politik und damit auch gegen die | |
Herrschaft des Kapitals.“ Der Kampf gegen das Kapital war jedoch nie Sache | |
der WutbürgerInnen. | |
Ob also anarchistische Organisationsprinzipien ausreichen, um soziale | |
Frustration in eine radikale Haltung umzuwandeln? Die „Alternativen zum | |
herrschenden System“, die der Untertitel ankündigt, bleibt jedenfalls auch | |
Graeber schuldig. | |
16 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
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