# taz.de -- Debatte Bewegungen: Die Graswurzler sind da | |
> Die Krise hat auch Potenzial: Immer mehr Leute haben es satt, sich | |
> „Sachzwängen“ zu unterwerfen. Sie beginnen, gemeinsam verantwortlich zu | |
> wirtschaften. | |
Bild: Die Umweltbank steht in der Kritik. | |
Das gegenwärtige Wirtschafts- und Politikmodell hat keine Zukunft: Es gibt | |
heute viel mehr Geld als reale Werte, der Kampf um Ressourcen spitzt sich | |
zu und die Spaltung zwischen Arm und Reich wird immer tiefer. | |
Politiker „fahren auf Sicht“ durch den dichten Nebel der Finanzmärkte und | |
verhandeln jahrelang auf internationalen Konferenzen, ohne dass die | |
Bankenmacht gebrochen, der Hunger reduziert, die Atmosphäre entlastet oder | |
der Artenschwund gestoppt wurde. Versuche, der Misere durch technische | |
Lösungen beizukommen, [1][sind gescheitert.] | |
Das Einzige, was den Crash abwenden kann, ist eine Kehrtwende – weg von den | |
aus gnadenlosem Wettbewerb hervorgegangenen Weltkonzernen mit ihren | |
Großtechniken und globalen Einheitsangeboten – hin zu einer ökologisch und | |
regional angepassten, vielseitigen Ökonomie, die alle Menschen einschließt | |
und nicht nur die fitten, jungen und reichen. | |
## Boom der Graswurzler | |
Die Krise bietet dafür gute Chancen: Immer mehr Menschen haben es satt, | |
sich undurchschaubaren „Sachzwängen“ zu fügen. Noch wichtiger als | |
Protestbewegungen wie Occupy sind Graswurzelprojekte, die vielerorts und | |
dennoch fast unbemerkt sprießen. Immer geht es darum, die Dinge des Alltags | |
wieder stärker in die Hand zu bekommen. | |
Die Beteiligten möchten wissen, wo herkommt, was sie essen, wollen ihre | |
Energie selbst erzeugen und verantworten können, was mit ihrem Ersparten | |
passiert: Bauern und Verbraucher schließen sich zu | |
Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften zusammen, in vielen Städten entstehen | |
kollektive Gemüsegärten, Solargenossenschaften errichten Fotovoltaikanlagen | |
auf Schuldächern. | |
Kommunen auf weit mehr als einem Viertel der deutschen Landesfläche haben | |
sich das Ziel gesetzt, schnellstmöglich | |
100-Prozent-Erneuerbare-Energien-Regionen zu werden. Kreditinstitute ohne | |
Spekulationsgeschäfte wie die GLS- und die Umweltbank boomen, in 65 Orten | |
gibt es Regionalwährungen oder sie werden gerade vorbereitet. | |
Die Projekte sind oft kleinschrittig, technisch unaufwändig und | |
fehlertolerant. Interessant dabei ist, dass die Aktivisten nicht wie in den | |
70er und 80er Jahren allein aus einer linksalternativen Ecke kommen, | |
sondern ebenso in CSU-Gemeinden wie Wildpoldsried im Allgäu oder in den | |
Chefzimmern mittelständischer Schuh-, Textil- und Chemiefabriken oder eines | |
Vier-Sterne-Hotels zu finden sind. Verzicht gehört hier nicht zum | |
Vokabular. | |
Vielmehr haben die Aktivitäten oft etwas ausgesprochen Lustvolles; | |
schließlich sind sie selbst gewählt und häufig mit Gemeinschaftserlebnissen | |
verbunden. Die Beteiligten wollen kein Modell sein für den Rest der Welt, | |
sondern etwas vor Ort gestalten. Zwar stützen Infrastruktur, globale | |
Handelsverträge und politische Institutionen die hergebrachte Ordnung. | |
Trotzdem hat die neue Graswurzelbewegung entscheidende Vorteile. | |
## Klein und dezentral | |
Zum einen finden inzwischen viele, dass die gegenwärtige Weltordnung | |
ungerecht, undemokratisch und ökologisch fatal ist und es „so nicht | |
weitergehen kann“ – und nichts überzeugt mehr als lebendige Beispiele, dass | |
es auch anders funktioniert. Die Graswurzler bieten zum anderen echte | |
Praxis und positive Erfahrungen, während die weltweiten Markenfirmen teure | |
Events inszenieren und damit doch nur Pseudoerlebnisse erzeugen. | |
Außerdem fließen die Einnahmen der Vor-Ort-Ökonomie nicht in ferne | |
Konzernzentralen, sondern bleiben in der Region und schaffen dort – oft | |
sogar eine ganze Menge – Jobs. Das alles macht sie attraktiv und wird zur | |
Verbreitung solcher Ansätze beitragen. | |
Auch zukunftsrelevante Techniken geben Rückenwind. Erneuerbare Energien | |
sind strukturell dezentral und liefern in Deutschland schon mehr als 20 | |
Prozent des Stroms – Tendenz rasch steigend. Inzwischen ist klar, dass die | |
Republik hervorragend ohne Großerzeuger auskommen kann, wenn das Netz | |
entsprechend umgebaut wird. Hier steht jetzt auf politischer Ebene der | |
entscheidende Machtkampf an. | |
Die Digitalisierung hat ebenfalls das Potenzial, die Dominanz der Großen zu | |
untertunneln. Schließlich kann man Dateien massenhaft anderen Nutzern | |
überlassen und zugleich selbst behalten. Der Versuch von Microsoft und Co, | |
ihre Programme hinter einer Maschinensprache zu verstecken und deren | |
Entschlüsselung unter Strafe zu stellen, ist ein vergeblicher Abwehrkampf. | |
## Neu: Die Fablabs kommen | |
Längst gibt es Software wie Linux, die von jedem kostenlos genutzt werden | |
kann. Ihre Qualität übersteigt die der Konzerne bei weitem, denn in der | |
Open-Source-Szene gehört es zur Kultur und zum guten Stil, entdeckte Fehler | |
zu beheben. Kooperation und Spaß sind auch hier die entscheidenden Faktoren | |
– und nicht Geld. Der die Wirtschaftswissenschaften dominierende Homo | |
oeconomicus, der immer nur den größten persönlichen Gewinn im Auge hat, ist | |
tot – denn das Leben selbst hat viel größere Reichtümer zu bieten. | |
Schon schwappt dieser Trend des Teilens und Weitergebens von der Software | |
in die Produktionssphäre über: In Fablabs – Gemeinschaftswerkstätten mit | |
Hightechmaschinen – können Laien frei zugängliche Daten nutzen und damit | |
bauen, was sie brauchen. Diese Entwicklung ist zwar noch ganz am Anfang. | |
Doch auch hier zeichnet sich ein Bruch ab mit dem dominanten | |
Wirtschaftsmodell, in dem Hersteller durch Werbung immer neuen Bedarf | |
erzeugen und so die Wachstumsmaschine permanent anheizen. | |
Und wie könnte das große Ganze aussehen? Oberster Orientierungspunkt muss | |
der Erhalt einer intakten Umwelt sein. Das aber bedeutet keineswegs | |
automatisch Verzicht. Die Natur hat es schließlich auch geschafft, aus dem | |
immer selben Material immer Vielfältigeres herzustellen – und das ganz ohne | |
Müll. | |
Eine Imitation dieser natürlichen Produktion bedeutet, regional | |
unterschiedliche Lösungen zu finden, mit vielfältigen Vernetzungen und | |
Nutzungskaskaden: Was für den einen Abfall ist, ist für den Nächsten | |
Rohstoff. Beispiele, wie das gehen kann, gibt es längst. Wenn 15 Prozent | |
einer Bevölkerung in eine Richtung marschieren, ist ein grundlegender | |
Wandel möglich. Auf geht’s! | |
25 May 2012 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-Energiewende/!93974/ | |
## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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