# taz.de -- Großflughafen Berlin-Brandenburg: Unter den Wolken | |
> 10.21 Uhr, noch 69 Minuten bis zum simulierten Abflug. Und noch 40 Tage, | |
> bis Schönefeld in Betrieb geht. Mehrere tausend Komparsen testen, was der | |
> Riesenbau taugt. | |
Bild: Woran erkennt man Komparsen? An den grünen Westen und Helmen. Und wo geh… | |
BERLIN taz | Sie wissen nicht, wohin sie gehen müssen, und sie haben nicht | |
viel Zeit. Es ist 10 Uhr. Gerade hat ein Bus Sabine Netzel und ihren Sohn | |
Jean-Paul vorm Haupteingang ausgespien. | |
Mit tausend weiteren Freiwilligen stehen sie mitten in einer lauten | |
Baustelle, die in wenigen Wochen als Empfangshalle dienen soll. Sie alle | |
tragen grüne Westen und grüne Helme und sehen aus wie eine Herde | |
Lego-Männchen. Und jetzt sollen es die zwei irgendwie zu ihrem Gate | |
schaffen. In 90 Minuten geht ihr Flug. | |
Sabine und Jean-Paul Netzel stellen sich brav in die Schlange vor den | |
Check-in-Schaltern. Vor ihnen hunderte Lego-Männchen, hinter ihnen ebenso. | |
Sie spielen mit beim 38. von 47 sogenannten Probebetriebstagen: Komparsen | |
checken ein, durchlaufen Sicherheitskontrollen, suchen ihr Abflug-Gate und | |
finden es hoffentlich pünktlich. | |
Nur Flugzeuge heben hier noch nicht ab. Insgesamt 10.000 Komparsen machen | |
unentgeltlich mit beim Passagiersein auf Probe, heute ist Großkampftag. | |
Alles, damit der drittgrößte Flughafen Deutschlands am 3. Juni reibungslos | |
an den Start gehen kann. | |
## Planungen laufen seit der Wende | |
Die Netzels wohnen im Berliner Ortsteil Altglienicke: nahe dem Airport, | |
aber nicht betroffen von den umstrittenen Flugrouten. Die beiden freuen | |
sich auf den „Flughafen Berlin Brandenburg Willy Brandt“, wie er offiziell | |
heißen wird. Trotzdem schüttelt Komparsin Netzel den Kopf, und ihre | |
goldfarbenen Ohrringe wackeln, als sie sagt: „Ick denk ma’, dat se’s nich… | |
schaffen.“ | |
Ihr Sohn Jean-Paul nickt. Sie meinen die rechtzeitige Fertigstellung des | |
Riesenbaus. Dann müssen sie weiter, sie sind an der Reihe am | |
Check-in-Schalter. Es ist 10.21 Uhr. Noch 69 Minuten bis zum Abflug. | |
Komparse Jean-Paul Netzel, 18 Jahre jung, war noch nicht einmal geboren, | |
als die Planungen für den Großflughafen begannen. Nach der | |
Wiedervereinigung 1990 fand man bald, die künftige Bundeshauptstadt Berlin | |
brauche einen großen, zentralen Flughafen. | |
Die innerstädtischen Flughäfen im ehemaligen Westteil, Tegel und Tempelhof, | |
sollten schließen. Sie galten als auf Dauer zu gefährlich und zu klein für | |
eine Stadt, deren politische Führung zwischenzeitlich glaubte, Berlin werde | |
von etwas mehr als 3 Millionen auf 6 Millionen Einwohner anwachsen. Man | |
dachte groß damals. Es war der Beginn eines langen Kampfs zwischen | |
politischen Wünschen und lästiger Realität. | |
Vor 19 Jahren begann die offizielle Suche nach einem Standort. Das erste | |
Raumordnungsverfahren kam zum Ergebnis: Schönefeld war ungeeignet. Zu viele | |
umzusiedelnde oder unter Fluglärm leidende Anwohner, zu wenig Platz für | |
einen späteren Ausbau. | |
## „Single-Airport“ am Stadtrand | |
Doch Bundesregierung und Berliner Senat unter dem Regierenden Bürgermeister | |
Eberhard Diepgen (CDU) wollten keinen abgelegenen Flughafen in Sperenberg | |
oder Jüterbog, weit weg in der brandenburgischen Provinz. Ein zweites | |
Raumordnungsverfahren folgte, und 1996 einigten sich die Länder Berlin und | |
Brandenburg: Am Ort des alten DDR-Flughafens Schönefeld am Südrand der | |
Hauptstadt sollte der „Single-Airport“ entstehen. | |
Weitere zehn Jahre vergingen bis zum ersten Spatenstich im September 2006. | |
Zuvor hatte das Bundesverwaltungsgericht die Musterklagen von Anwohnern und | |
von vier Gemeinden abgewiesen. Sie hatten gegen den | |
Planfeststellungsbeschluss geklagt. | |
Doch das Dilemma ist geblieben: Ist es ein Fortschritt, wenn in und um | |
Schönefeld mindestens 60.000 Menschen mit einem Dauerschallpegel von 55 | |
Dezibel bedröhnt werden? Nur weil an den früheren Flughäfen tagsüber | |
226.000 andere Menschen davon betroffen waren? Oder war es schlicht falsch, | |
so nah an der Stadt zu bauen und dadurch die Gesundheit zehntausender | |
Menschen zu gefährden? | |
## Planer haben sich verrechnet | |
Sabine Netzel kehrt zurück vom Check-in-Schalter, in der Hand hält sie zwei | |
rechteckige Ausdrucke: Bordkarten für den Lufthansa-Flug 8011 nach | |
Frankfurt am Main, Abflug um 11.30 Uhr am Gate B24. Diesmal geht die | |
Abfertigung glatt. Erst Anfang April ist bekannt geworden, dass die Planer | |
sich verrechnet haben. In Spitzenzeiten reicht die Anzahl der Schalter | |
nicht aus. | |
Für 2,5 Millionen Euro entsteht deshalb nebenan ein Metallcontainer mit 20 | |
Extra-Schaltern. Der teure Patzer nährt Zweifel, ob der Bau dem erwarteten | |
Strom von jährlich 27 Millionen Passagieren gewachsen ist. | |
Ihre Koffer haben die Netzels beim Check-in abgegeben. Insgesamt 15.000 | |
Stück stehen bereit, um die riesige, unterirdische Gepäckanlage zu testen. | |
Die Verantwortlichen fürchten ein Desaster wie bei der Eröffnung des | |
schicken neuen Terminals 5 in London-Heathrow vor vier Jahren. | |
Damals streikte die Gepäckanlage über Tage, tausende Gepäckstücke stapelten | |
sich in der Abfertigungshalle. Es stellte sich heraus: Im Probebetrieb | |
waren nur leere Koffer im Einsatz gewesen. Ein Publicity-Desaster. Die | |
Koffer in Schönefeld sind „beschwert“, versichert der Pressesprecher. | |
Es ist 10.29 Uhr, Mutter und Sohn Netzel gehen hinüber zu den | |
Sicherheitsschleusen. Warum haben die beiden sich Monate im Voraus | |
angemeldet, um sich an ihrem freien Tag in eine Schlange zu stellen? Es sei | |
doch schön, einen nagelneuen Flughafen zu besichtigen, sagt die Mutter, und | |
der Sohn nickt. Aber die Wasserflasche, die sie in der Hand hält, „die geb | |
ick nich’ her“. Obwohl Flüssigkeitsbehälter ab hundert Milliliter | |
Fassungsvermögen eigentlich nicht an Bord dürfen. | |
## 150 Parfümerien, Kneipen, Cafés und Boutiquen | |
Dreißig Minuten später haben die Netzels die Sicherheitsschleusen hinter | |
sich. Die Wasserflasche klemmt noch immer unter Sabine Netzels Arm. Neben | |
einem Scanner steht ein Bundespolizist mit Aktenmappe. Ein korrekter | |
Polizeioberkommissar, der nicht von Schleusen redet, sondern | |
„Luftsicherheitskontrollspuren“. | |
„Die Geräte sind so vorbereitet“, sagt Olaf Wiese, „dass das Detektieren | |
von Flüssigkeiten ohne Umbaumaßnahmen durchgeführt werden kann“. Was der | |
Sicherheitsexperte damit meint: Ab März 2013 wird die Verordnung zum Verbot | |
von Flüssigkeiten an Bord voraussichtlich aufgehoben. Dann sollen neue | |
Apparate Shampoo von Sprengstoff unterscheiden. Hier sind sie bereits im | |
Einsatz. | |
Es ist 11.01 Uhr. Die Netzels müssen sich beeilen. In 29 Minuten geht ihr | |
Flug, und vorher müssen sie ihren Weg durch eine riesige Baustelle finden. | |
Kabel hängen aus der Decke, Schleifmaschinen dröhnen. Bauarbeiter gehen | |
über provisorische Holzbohlen, um den gelblich-braunen Kalksandstein-Boden | |
nicht zu zerkratzen. Wo in fünf Wochen insgesamt 150 Parfümerien, Kneipen, | |
Cafés und Boutiquen öffnen sollen, sind bislang nur Markierungen auf dem | |
Boden und ein paar Regale. Die Betreiber zögern den Umzug hinaus, Zeit ist | |
Geld. | |
## Ab dem 3. Juni geht's los | |
Erst kurz vor der Nacht der Nächte werden sie vom 35 Kilometer entfernten | |
Tegel und dem alten Flughafen Schönefeld hierherziehen. Zuletzt werden in | |
der Nacht vom 2. auf den 3. Juni Sattelschlepper, Feuerwehr- und weitere | |
Spezialfahrzeuge auf die Reise quer durch Berlin gehen. Für die bis zu 60 | |
Tonnen schweren Gefährte werden Autobahnen in einer Richtung gesperrt. In | |
fünf Stunden soll alles erledigt sein, denn schon am Morgen des 3. Juni | |
werden die ersten Flugzeuge die zwei Landebahnen ansteuern. | |
Die Netzels suchen ihr Gate. Am Nachmittag sollen sie einen zweiten Abflug | |
simulieren. Obwohl sie über glatte Steinböden laufen, links und rechts viel | |
Glas, hallen ihre Stimmen kaum. Die Wände sind verkleidet mit rotbraunem | |
Nussbaumfurnier. Viele kleine Löcher darin schlucken den Schall. Wenn | |
drinnen die Bohrer verstummen, wird der Lärm draußen losgehen. | |
Zwischen Mitternacht und 5 Uhr wird zwar ein Flugverbot gelten. Doch | |
zwischen 22 Uhr und Mitternacht sowie zwischen 5 und 6 Uhr sind | |
durchschnittlich 77 Starts und Landungen erlaubt, maximal 103. Anwohner | |
fordern ein striktes Flugverbot von 22 bis 6 Uhr. Damit sind sie im | |
vergangenen Oktober vorm Bundesverwaltungsgericht gescheitert. | |
## Trainieren im Auto | |
Die Netzels gehen vorbei an Gates, an denen weitere Komparsen auf ihren | |
vermeintlichen Abflug warten. Sie begegnen einer Flughafenangestellten in | |
gelber Weste. Geht ihr Flug noch immer von Gate B24 ab? Die Frau blickt | |
etwas ratlos auf ihren Zettel und murmelt: „Ja, müsste.“ | |
Auch die Menschen, die hier arbeiten, müssen sich erst an die neuen Abläufe | |
gewöhnen. Laut Flughafengesellschaft machen 10.000 bis 15.000 Mitarbeiter | |
mit beim sechsmonatigen Probebetrieb, der bereits im vergangenen November | |
begonnen hat. Wenn die Netzels nach draußen blicken, sehen sie Kleinbusse, | |
die übers Flugfeld fahren. Darin sitzen Piloten. Sie trainieren das | |
metergenaue Rangieren auf dem Flugfeld – in Autos. | |
Ob alles klappen wird oder ob ein Desaster wie in Heathrow geschehen wird – | |
das weiß heute niemand. Derzeit hört der Pressesprecher keine Frage | |
häufiger als die, ob die Gesamtkosten tatsächlich, wie geplant, bei maximal | |
2,83 Milliarden Euro liegen werden. Er schweigt dazu. Irgendwas wird schon | |
schiefgehen, trotz aller Planungen, das wissen alle hier. Die Frage ist | |
nur: was? | |
Es ist jetzt 11.25 Uhr. Das Boarding an Gate B24 beginnt. Wie bei einem | |
richtigen Flug zeigen die Netzels ihre Bordkarten vor. Sie haben es in der | |
vorgesehenen Zeit geschafft. Draußen hinterm Fenster landet ein Pilot | |
sicher seinen Kleinbus. | |
24 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
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