# taz.de -- Buch „Aufruhr der Ausgebildeten“: Aufstände in Zeiten der Post… | |
> Mit den Aufständen von Kairo bis New York beschreibt Wolfgang Kraushaar | |
> die erste globale Protestbewegung seit 1968. Ist die Revolte schon wieder | |
> vorbei? | |
Bild: Entschieden und diffus zugleich: Eine Occupy-Wall-Street-Demonstrantin ma… | |
2011 geschah in Kairo und Madrid, in Santiago de Chile und Tunis, New York | |
und Frankfurt etwas Überraschendes. In den arabischen Ländern fegte eine | |
von jungen Akademikern initiierte Protestbewegung die verwitterten | |
autoritären Regime hinweg. In den westlichen Metropolen formierten sich | |
kurz darauf basisdemokratische Bewegungen, die gegen die Kluft zwischen | |
Reich und Arm mobilisierten und symbolisch sogar die Wall Street, eine | |
Herzkammer des Finanzkapitalismus, attackierten. | |
Auffällig war, dass sich die Textur des Protests in Madrid wie in Kairo | |
ähnelte. Den Kern der Revolte bildeten hier wie dort neben den Armen die | |
enttäuschten Kinder des Bürgertums, die studiert hatten und nun arbeitslos | |
waren, in Praktikum-Warteschleifen festhingen oder jobbten, ohne Aussicht | |
auf Besserung. Die Welt, schreibt Wolfgang Kraushaar, „hat einen Aufruhr | |
der Ausgebildeten erlebt“. Dies war (oder ist?) die erste globale | |
Protestbewegung, seit Studenten 1968 in Paris, Berlin und Tokio | |
aufbegehrten. So sieht es aus, aber es ist etwas komplizierter. | |
Das Motiv des Aufruhrs in arabischen Staaten ist offenkundig. Bildung, das | |
Aufstiegsversprechen für die Mittelschicht, hat sich dramatisch in ein | |
Armutsrisiko verwandelt. In Marokko, Tunesien und Ägypten ist die | |
Arbeitslosigkeit bei Hochschulabsolventen doppelt so hoch wie im | |
Durchschnitt. Das Modell, dass ein Diplom einen Job im Staatsdienst | |
garantiert, ist perdu. Das ist die Folie der Arabellion. | |
Lange gab es im Westen alarmistische Warnungen vor der demografischen | |
Bombe, die bald in der Region detonieren wird, vor Millionen frustrierten, | |
perspektivlosen, aggressiven Jungmännern von Casablanca bis Jemen. Das | |
Wunder der Arabellion ist, dass die Frustrierten immun gegen autoritäre | |
Lösungen waren und den größten Demokratieschub in der Region seit der | |
Entkolonisierung in Gang setzten. Man sollte das Staunen darüber nicht zu | |
schnell verlieren. | |
Kraushaar zitiert als Erklärung eine luzide Analyse des französischen | |
Demografen und Politologen Emmanuel Todd, der 2007 tektonische | |
Veränderungen der arabischen Gesellschaften notierte: Das Bildungsniveau | |
stieg rapide, während die Geburtenrate sich seit 1980 halbierte. Diese | |
stille Revolution erschüttert die patriarchale Familienordnung in ihren | |
Grundfesten, dass auch die autokratische Staatsstruktur ins Wanken geraten | |
würde, hielt Todd 2007 für eine Frage der Zeit. | |
## Facebook-Revolte? | |
Mit Skepsis schaut Kraushaar auf das Label Facebook-Revolte. Wael Ghonim, | |
Marketingexperte für Google und Aktivist des ägyptischen Umsturzes, gab den | |
Slogan aus: „Um eine Gesellschaft zu befreien, braucht man ihr nur Zugang | |
zum Internet zu geben.“ Kraushaar hält das zu Recht für übertrieben. Manche | |
meinen sogar, dass die Revolte in Kairo erst richtig losging, nachdem die | |
Machthaber Handys und Internet abgeschaltet hatten. | |
Erst als die neuen Medien nicht mehr funktionierten, gingen die Massen auf | |
die Straße, um mit eigenen Augen zu sehen, was los war. Viele wurden erst | |
ohne Twitter zu Akteuren der Revolte – eine Art Dialektik der neuen Medien. | |
Die Revolutionen finden nach wie vor nicht virtuell statt, sondern indem | |
symbolische Orte besetzt werden. Zudem ist der Einfluss der TV-Sender | |
al-Dschasira und al-Arabia kaum zu überschätzen. | |
Kraushaar zeichnet die Chronik der Ereignisse sachlich und anschaulich | |
nach, auch wenn direkte Zeugenschaft nicht geschadet hätte. Die | |
überraschende Volte, die scharfe Pointierung, die ausgreifende These sind | |
seine Sache nicht. Leider fehlen auch abstraktere Zugänge. Die Frage, ob | |
die Individualisierungstheorie ein Schlüssel zur Erklärung dieser | |
Bewegungen ist, wäre eine Diskussion wert. | |
## Globale Bewegung? | |
Die Kernfrage lautet: Kann man wirklich von einer globalen Bewegung reden – | |
oder war die Revolte gegen Mubarak & Co. und der Protest gegen Wall Street | |
und Finanzkapitalismus nur eine zufällige zeitliche Überschneidung, ein | |
Schein der Gleichzeitigkeit? | |
„Wenn sie es schaffen, unseren Widerstand zu ersticken, wird das eine | |
Prozent gewinnen – in Kairo, New York, London, Rom.“ Diesen Appell sandten | |
im Herbst 2011 ägyptische Aktivisten an die Occupy-Bewegung in New York. | |
Gegen die Regime in Tunis und Kairo, gegen Investmentbanker in New York – | |
war oder ist das eine Front? Oder ist dies nur eine rhetorische | |
Beschwörung? In Kraushaars Momentaufnahme bleibt diese Frage offen. | |
Die Bewegung im Westen M12M in Lissabon, Occupy oder die spanische | |
Graswurzel-Bewegung „Democratia real ya!“ verbindet jedenfalls ihre bis ans | |
Diffuse grenzende Offenheit. Ihre programmatischen Texte sind durchweg | |
freundliche Appelle, die das Recht auf menschenwürdige Jobs einklagen. Mehr | |
soziale Gleichheit und mal Polemiken gegen den Neoliberalismus – viel | |
anders klingen moderate Sozialdemokraten auch nicht. | |
## Der Bürger als handlungsfähiges Subjekt | |
Neu ist indes das Misstrauen gegen alle Großorganisationen. Die spanische | |
Graswurzelbewegung „Democratia real ya!“ proklamiert, dass es um „Menschen | |
geht, die sich die Welt zu eigen machen, ohne Parteien, Gewerkschaften, die | |
ihnen sagen, was sie tun sollen“. In diesem Bild des Aufstands der | |
Individuen gegen die Organisationen leuchtet ein Bild des Bürgers als | |
handlungsfähiges Subjekt. Alles soll die Kraft des Authentischen zum | |
Besseren wenden, wenn es nur endlich ungebremst von Hierarchie, Anführern, | |
in der Asembla, dem täglichen basisdemokratischen Forum, frei zum Ausdruck | |
kommen darf. | |
Dieser Gestus ist typisch für diese Bewegungen: Sie sind das Paradox einer | |
individualistischen Revolte, der das Verbindliche, Formale suspekt ist. „Im | |
Grunde vertreten sie eine Anti-Ideologie. Alles soll sich von Innen heraus | |
entwickeln, alles Repräsentative ist ihnen fremd, jegliches | |
Delegationsprinzip von Übel“, schreibt Kraushaar. | |
Auch gender, class, race, generation sind bloß Grenzen von gestern, die das | |
neue grenzenlose Wir der digitalen Communitys einschränken. Dieses schlicht | |
anmutende Ideal spiegelt das Ethos des Internet: Alle dürfen mitmachen, | |
alle dürfen alles. The media is the message. So sanft und offen | |
protestieren die desillusionierten Kinder der Mittelschicht für mehr | |
Gerechtigkeit. | |
## Wenig Ideen | |
Die großformatige Erzählung, wie die Gesellschaft sein soll, sucht man bei | |
Occupy & Co. vergebens. Man will Reformen, und außer dass es besser werden | |
soll und alle mithelfen sollen, ist mitunter gar keine Idee zu erkennen. Es | |
ist leicht, über diese Texte, die Kraushaar beschreibt, zu höhnen oder ihre | |
Botschaft unsäglich albern zu finden. Doch wer das tut, hat den Schuss | |
nicht gehört: So klingen Revolten im postideologischen Zeitalter eben. | |
1968 ist für diese Bewegungen, Kraushaar deutet dies an, die falsche | |
Blaupause. Es ist zwar wie damals die akademische Jugend, die mobil macht. | |
Sie ist, wie 68, global vernetzt und versteht sich auf die effektive | |
Nutzung von Medien. Doch den Jungakademikern standen 1968 alle | |
Karrierechancen nach oben offen. Es war eine Revolte aus Lust, angetrieben | |
von fiebrigen Befreiungsvisionen, die mitunter in stählernem Dogmatismus | |
endete. | |
## Angst statt Romantik | |
Die Jugend in Barcelona und Lissabon, wo fast die Hälfte der unter | |
25-Jährigen arbeitslos ist, treibt keine politische Romantik auf die | |
Straße, sondern Angst, zum Ausschuss zu gehören. Es geht 2012 um handfeste | |
materielle Interessen, nicht um Lebensstile. Deshalb ist die Bewegung in | |
der Exportnation Deutschland so klein. | |
Und nun? Von Ulrich Beck stammt der fast immer verwendbare Aphorismus: Die | |
sozialen Bewegungen kommen und gehen, vor allem gehen sie. Zwischen Tunis | |
und Jemen waren die Bewegungen Enzym eines Umbaus. Die säkularen Autokraten | |
sind vertrieben, die neue Ära ist durch eine labile Machtbalance zwischen | |
Zivilgesellschaft, Islamisten und Militär geprägt. | |
Vielleicht wird das ein neuer Weg in eine arabische Moderne, vielleicht | |
nicht. Die Aktivisten der Revolte haben darauf jedenfalls wenig Einfluss. | |
Das ist die Schattenseite ihrer Stärke, ihrer Offenheit. Darin ähneln sie | |
in der Tat den Bewegungen im Westen. Der offene Gestus, der Verzicht auf | |
ein hartes, kristallines Wir, auf die alte Identitätspolitik und | |
Avantgarde-Ideen haben einen Preis: Flüchtigkeit. | |
Wolfgang Kraushaar: „Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur | |
Occupy-Bewegung“. Hamburger Edition, Hamburg 2012, 255 Seiten, 12 Euro | |
30 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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