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# taz.de -- Unterrichtsmaterial an Schulen: Schulbuch sucht legale Nachfolger
> Der digitale Wandel macht gedruckte Lehrbücher überflüssig. Doch das
> Urheberrecht verbietet die Alternative: frei zugängliche Lernmaterialien.
Bild: Rip, mix, share! Was früher die Schere erledigte, machen heute Bildbearb…
„Schlagt bitte alle Seite 57 auf. In der letzten Stunde waren wir beim
zweiten Abschnitt stehen geblieben. Da machen wir jetzt weiter.“ So einfach
funktionierte die alte Schule. Alle arbeiteten zur gleichen Zeit mit
gleichem Tempo am gleichen Inhalt.
Die SchülerInnen durften nicht machen, sondern sollten mitmachen. Die
LehrerInnen sagten an, wo es langging. Die drei wichtigsten Medien dieses
Lernens sind entsprechend: die Stimme, die Tafel und das Schulbuch. Das
gilt bis heute. Mehr als alle andere Medien verkörpert das Schulbuch die
Gleichschrittschule.
Die neue Schule ist das Gegenteil von Gleichschritt. Binnendifferenzierung
und Individualisierung sind die Herausforderungen der Schule heute. Der
Unterricht, Kerngeschäft der Profession Pädagogik, muss umgekrempelt
werden. Die LehrerInnen sollen nicht mehr (nur) lehren, sondern Umgebungen
für selbständiges und freies Arbeiten schaffen.
Der didaktische Umbruch verlangt auch neue Unterrichtsmaterialien. Das
Schulbuch verliert seinen Stellenwert. Wer heute in eine Schule mit
einigermaßen individualisiertem Unterricht geht, der findet dort ein
Sammelsurium verschiedenster Materialien. Es gibt zwar immer noch Bücher –
vor allem aber Arbeitsblätter. Sie sind das Unterrichtsmaterial der
modernen Schule.
Klassenräume in Reformschulen sind voller Ordner, Schnellhefter und
Ablagekörbe. Eltern wissen: Der Umgang mit Locher und Tacker ist für
Achtjährige Routine wie sonst nur für Buchhalter. Für die LehrerInnen ist
der Kopierer zur unentbehrlichen Ausstattung geworden. Die Anzahl von
Kopien steigt rasant an. LehrerInnen werden zunehmend zu ExpertenInnen im
Zusammenstellen von Material.
## Rip, mix, share
Rip, mix, burn nannte man es zur Jahrtausendwende in der digitalen Kultur,
wenn aus bestehenden Inhalten ein neues Werk geschaffen wurde. Man rippte
Musik, brachte sie also von einem Tonträger in den Computer. Dort mischte
man die vorhandenen Lieder zu etwas Neuem zusammen – und brannte das
Ergebnis auf ein neues Medium, um es unter FreundenInnen und Fremden zu
verteilen.
Da es heute keine Datenträger mehr braucht, würde man eher von rip, mix,
share oder rip, mix, copy sprechen. Nichts anderes machen moderne
LehrerInnen. Bisher waren ihre Werkzeuge: Schere (rip), Klebestift (mix)
und Kopierer (copy). In Schulen ist rip, mix, copy schon viel länger als
Kulturtechnik etabliert als Computer und Internet.
Sind damit alle LehrerInnen Piraten und Raubkopierer? Nicht ganz. Denn
diese Arbeitsweise ist Teil des eingespielten Systems. Das Urheberrecht
sieht bisher ausdrücklich einen Spielraum für das Kopieren vor. Lehrkräfte
dürfen bis zu 12 Prozent eines Werkes, jedoch maximal 20 Seiten kopieren
und an eine Lerngruppe innerhalb eines Schuljahres austeilen. Die Urheber
werden über Pauschalvergütungen für Kopien entschädigt.
So weit der Status quo in der analogen Welt. Heute geht jedoch auch bei
LehrerInnen die Unterrichtsvorbereitung zunehmend digitale Wege:
Materialien werden per Scanner gerippt. Bildbearbeitung und
Textverarbeitung ersetzen Schere und Klebestift. Der Kopierer steht als
Multifunktionsdruckers gleich neben dem Schreibtisch.
## Piraten und Raubkopierer
Und inzwischen ist auch noch das Internet dazugekommen. LehrerInnen finden
im Internet Unterrichtsmaterialien von unterschiedlichsten Anbietern und
unterschiedlichster Qualität.
Später als viele andere Professionen entdecken auch LehrerInnen, dass der
vernetzte digitale Raum für sie interessant ist: um Materialien zu finden,
neu zusammenzustellen, sie im Team über USB-Sticks, Wikis und Cloud-Dienste
zu teilen. Ein Glücksfall: Just zu dem Zeitpunkt, in dem die
Differenzierung von Unterrichtsmaterial zur didaktischen Notwendigkeit
wird, entdecken LehrerInnen die Arbeitsmittel, die genau dafür gemacht
sind: die digitalen Werkzeuge.
Aber paradoxerweise ist genau das verboten, was pädagogisch sinnvoll wäre.
Das Urheberrecht gilt nämlich, so wie es oben beschrieben wurde, nicht
mehr, sobald ein Computer ins Spiel kommt: Das digitale Speichern und
Verteilen von Lehrwerken ist grundsätzlich verboten – auch wenn es sich nur
um ein kleines Bild oder einen kurzen Text handelt. Es dürfen keinerlei
digitale Kopien von Lehrwerken angefertigt werden – auch nicht für
häusliche Vorbereitung, weil sie nicht privat, sondern beruflich begründet
ist.
Vielen LehrerInnen war dieses Verbot bis vor kurzem gar nicht bewusst – bis
im Herbst 2011 die Planungen für den sogenannten Schultrojaner aufgedeckt
wurden. Mithilfe eines Programms der Rechteinhaber sollten alle Computer in
Schulen auf urheberrechtlich geschützte Werke untersucht werden, um
illegale Kopien aufzuspüren.
## Angst vorm Schultrojaner
In Niedersachsen werden die Schulleitungen angehalten, die Verantwortung
dafür zu übernehmen, dass auf den schulischen Computern keinerlei
urheberrechtlich geschütztes Material gespeichert wird. Auch in anderen
Bundesländern hört man von urheberrechtlichen Selbstverpflichtungen, die
LehrerInnen unterschreiben sollen.
In den Schulen herrscht deswegen große Unsicherheit. In manchen Kollegien
gilt die Devise: Lassen wir lieber die Finger von allem Digitalen, nur so
sind wir auf der sicheren Seite.
Seit Ende 2011 kursiert unter Eingeweihten das Kürzel OER als eine Art
Heilsversprechen, das pädagogische und digitale Welt versöhnen könnte, ohne
dass dafür alle LehrerInnen zu Kriminellen werden müssen. OER steht für
Open Educational Resources, also in etwa frei zugängliche
Unterrichtsmaterialien. Dahinter verbirgt sich kurz gefasst Folgendes:
Entsprechende Materialien werden unter einer Lizenz veröffentlicht, die das
Kopieren, Bearbeiten und Verbreiten von veränderten Inhalte explizit
erlaubt. Auch der Browser Firefox oder die Wikipedia arbeiten mit ähnlichen
Lizenzen.
Die Vorteile von OER liegen auf der Hand: LehrerInnen können entsprechende
Materialien nicht nur frei verwenden. Entscheidend ist aus pädagogischer
Sicht, dass die Materialien verändert und neu kombiniert werden können. Sie
können selbst erstellte und Remixe von Materialien auch an andere
weiterreichen. Dem offenen Austausch unter KollegInnen steht dann
urheberrechtlich nichts mehr im Wege. Häufig wird auch der Kostenfaktor
angeführt, denn Inhalte unter einer freien Lizenz sind meist kostenlos
erhältlich.
Doch ganz so einfach ist das nicht. Unklar ist nämlich noch, wie Material
aus Drittquellen mit OER verknüpft werden können. Ein Beispiel macht es
deutlich: Für den Chemieunterricht wird es ein Leichtes sein, Experimente,
Zeichnungen und Anleitungen neu zu erstellen oder aus bereits offenen
Quellen zu beziehen. Für das Fach Deutsch oder Geschichte muss man aber auf
Originalquellen zurückgreifen. Ein Gedicht von Brecht muss im
(urheberrechtlich geschützten) Original verwendet werden.
Ein anderer Punkt: Nicht alle LehrerInnen möchten sich das Material für den
eigenen Unterricht im Internet neu zusammensuchen. Für eine gemeinsame
Basis und zuverlässige Materialien braucht es Instanzen, die geprüfte und
möglicherweise zertifizierte Materialien zusammenstellen. Inwieweit diese
Leistungen von PraktikerInnen, von staatlichen Stellen oder von Verlagen
übernommen werden, ist noch vollkommen offen.
## Keine Teamkultur
Ein dritter Punkt betrifft die Kultur der Zusammenarbeit an deutschen
Schulen: Bisher gibt es an den Schulen oft nur informelle Kreise, die
gemeinsam am Unterrichtsmaterial arbeiten. Bereits der Austausch innerhalb
des Lehrerkollegiums ist für viele LehrerInnen nicht selbstverständlich,
ein offener Austausch über das Internet ist nur für eine kleine Minderheit
vorstellbar.
Digitalisierung, Urheberrecht und eine Kultur der Zusammenarbeit bilden ein
Dreieck, dessen Ecken sich gegenseitig beeinflussen. Bei Digitalisierung
und Urheberrecht geht es nicht nur um technische und juristische Fragen.
Vielmehr stehen und fallen hier die Grundlagen für Unterrichtsmaterialien,
die den pädagogischen Ansprüchen moderner Schule gerecht werden.
Die ungekürzte Version dieses Textes steht unter [1][edushift.de] und
[2][joeran.de] Diese wird unter [3][CC-by-3.0-Lizenz] veröffentlicht. Das
heißt, Sie können für beliebige Zwecke kopieren oder verändern oder
veränderte Kopien in Umlauf bringen - sofern sie dabei die Autoren Jöran
Muuß-Merholz und Felix Schaumburg nennen.
2 May 2012
## LINKS
[1] http://www.edushift.de/2012/05/02/das-langsame-sterben-des-schulbuchs/
[2] http://www.joeran.de/das-langsame-sterben-des-schulbuchs/
[3] http://www.creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/
## AUTOREN
J. Muuß-Merholz
F. Schaumburg
## TAGS
Datenschutz
Bildung
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