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# taz.de -- Führung der Linkspartei: Das Risiko der Demokratie
> Die Linke auf Kollisionskurs: Beim Parteitag in Göttingen kommt es zum
> Showdown zwischen den beiden verfeindeten Flügeln. Es geht um West gegen
> Ost.
Bild: Damals herrschte noch Aufbruchstimmung: Die Linke auf ihrem Europa-Partei…
BERLIN taz | Als der Ostpragmatiker Dietmar Bartsch vor einer Woche bei der
Kandidatenvorstellung in Frankfurt am Main sprach, applaudierten die
Westgenossen nur ein einziges Mal – als Parteichef Klaus Ernst den Saal
betrat. Ansonsten nur kühle Distanz auf beiden Seiten.
Es gibt in allen Parteien Neid und Missgunst. Aber nur in der Linkspartei
verachtet man sich in fest formatierten Blöcken: West gegen Ost, linker
Flügel gegen rechten Flügel. Die gegenseitige Missachtung hat Züge einer
neurotischen Fixierung angenommen.
Es gibt in der Linkspartei in der Tat große Erfahrungsunterschiede –
zwischen dem Bürgermeister in Brandenburg und dem linken
Gewerkschaftsfunktionär in NRW etwa. Aber der Streit hat sich längst von
den realen Erfahrungsdifferenzen abgelöst. Der interne Kampf ist wie eine
Maschine, bei der niemand mehr den Ausknopf findet.
Es sieht nicht so aus, als könnte der Parteitag in Göttingen daran etwas
ändern. Wenn Dietmar Bartsch, der Repräsentant der Ostpragmatiker, nicht
Parteichef wird, werden sich im Osten viele resigniert zurückziehen. Vor
allem wenn die Westlinke ihren eilends aufgestellten Kandidaten, den
Stuttgarter Ver.di-Gewerkschafter Bernd Riexinger, durchboxt.
Ein Ostpragmatiker fürchtet: „Wenn Bartsch nicht gewählt wird, kann es bei
uns zu irrationalen Handlungen kommen.“ Will sagen: spontane Austritte,
Übertritte zur SPD, Überlegungen für eine Rückkehr zur PDS. Im Westen
wiederum sind viele nach Oskar Lafontaines Rückzug deprimiert. Und Sahra
Wagenknecht, die Einzige, die im Westen eine ähnlich magnetische Wirkung
entfaltet wie Lafontaine, will bis jetzt nicht kandidieren.
## Die dritte Möglichkeit
Angesichts des Kollisionskurses der beiden Flügel hat sich eine dritte
Möglichkeit herauskristallisiert: eine Doppelspitze mit Katja Kipping und
Katharina Schwabedissen. Kipping kommt aus dem pragmatischen Landesverband
Sachsen, Schwabedissen aus dem linken NRW. Ost und West, eher links, eher
Reformerin – das wäre eine Alternative zu dem Showdown zwischen den sich
feindlich gegenüberstehenden Blöcken.
Es wäre die Wahl des berühmten „dritten Weges“. Damit verbindet sich im
besten Fall die Chance, die Partei aus der doppelten Fixierung auf die SPD
lösen: Wo das Lafontaine-Lager auf starre Abgrenzung besteht, kommt die
Linkspartei im Osten der SPD oft nahe, zu nahe.
Kipping hat im von linken Grünen, Sozialdemokraten und offenen
Linksparteipolitikern betriebenen „Institut Solidarische Moderne“ gezeigt,
dass Selbstbehauptung und Bündnisoffenheit vereinbar sind. Und
Schwabedissen hat in Düsseldorf eine für die Linkspartei erfolgreiche
Tolerierung der rot-grünen Minderheitsregierung orchestriert. In Zeiten
wachsender Ablehnung männerdominierter Apparatepolitik stehen die
sächsische Bundestagsabgeordnete und die nordrhein-westfälische
Landeschefin für etwas Neues, Anderes.
## Antiautoritäres Experiment
Allerdings wäre das Frauenduo schon logistisch fast überfordert. Kipping
hat ein Baby, um das sie sich kümmern muss und will, Schwabedissen wohnt
ganz im Westen in Bochum. Die Gefahr, dass diese Halbtagsparteispitze von
den Blöcken einfach zerrieben wird, ist groß, sehr groß. Und eine Hausmacht
haben die beiden auch nicht.
Das Duo Kipping/Schwabedissen ist zwar eine schillernde Idee – aber es
fragt sich, ob die Linkspartei nicht zu zerrüttetet für dieses sympathische
antiautoritäre Experiment ist.
Allerdings werden die Fliehkräfte noch größer, falls sich in Göttingen
eines der von den Lagern bevorzugten Teams durchsetzt. Das Dreamteam der
Ostler ist die Ex-SPD-Frau Dora Heyenn und Dietmar Bartsch. Das
Lafontaine-Lager setzt auf Katja Kipping und Bernd Riexinger. Doch Kipping
will sich auf keinen Fall von einem Lager instrumentalisieren lassen.
„Katharina Schwabedissen und ich werden beide in Göttingen klar machen,
dass wir zusammen antreten“ sagte Kipping zur taz. Will sagen: Bei der
Wunschlösung der Westlinken mit dem Gewerkschafter Riexinger ist sie nicht
dabei sein. Bernd Riexingers Kandidatur, erst seit Mittwoch bekannt, ist
zudem eine Wiederholung der Tragikomödie, die Klaus Ernst derzeit aufführt.
Eine Spielfigur ohne eigenes Gewicht, ohne Autorität, his masters voice.
## Die beste und unwahrscheinlichste Lösung
Die Lage ist unübersichtlich. Auch die Beteiligten selbst wissen nicht, ob
sie am Samstag siegen werden oder bloß Zählkandidaten sind. Die üblichen
Absprachen zwischen den Flügeln gibt es nicht. Göttingen wird für die
Linkspartei eine neue Erfahrung: das Risiko der Demokratie.
Die einzige Führung, die die Partei befrieden könnte, ist zugleich die
unwahrscheinlichste: das Team Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht. Nur
dieses Team wäre wohl einflussreich genug, um einen Waffenstillstand der
Flügel zu garantieren. Nur dieses Team stellt, abgesehen von
Kipping/Schwabedissen, sicher, dass in Göttingen kein Lager als
gedemütigter Verlierer vom Platz geht.
Doch Wagenknecht möchte nicht Parteichefin werden, schon gar nicht mit
Dietmar Bartsch. Dabei wäre dies die einzige Führung, die glaubwürdig
demonstrieren könnte, was die Partei am nötigsten braucht: dass ihr innerer
Zusammenhalt stärker ist als die Lust am Kleinkrieg.
1 Jun 2012
## AUTOREN
S. Reinecke
T. Strohschneider
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