# taz.de -- Montagsinterview mit Trevor Wilson: "Fußballer und Gesang gehören… | |
> Trevor Wilson kam vor 30 Jahren aus England nach Berlin. Er mag Musik, | |
> Fußball und Bier. Und hat einen Tick: Wilson sammelt deutschsprachiges | |
> Fußballliedgut. Ein Gespräch über Herthas Musikgeschmack, die Lieder des | |
> Kaisers und Fangesänge bei der Europameisterschaft. | |
Bild: Trevor Wilson | |
taz: Herr Wilson, die Fußball-Europameisterschaft steht vor der Tür. Es ist | |
also sowohl Hochsaison des Fußballs wie auch der Fußballmusik. | |
Trevor Wilson: Stimmt. Gerade vor der EM kommen ganz viele seltsame Lieder | |
raus. | |
Ist das für Sie als Sammler eher ein Grund zur Freude oder zum Jammern? | |
Beides. Ich würde nichts lieber machen, als mein ganzes Leben nur mit | |
Fußball und Musik verbringen. | |
Kommen denn immer mehr Fußballlieder heraus? | |
Seit es MP3 gibt, kann jeder ein Lied aufnehmen – und am nächsten Tag ist | |
es online für alle hörbar. Diese Technik war eine Art Dammbruch. Früher | |
musste man ins Studio gehen und eine Aufnahme machen, was recht teuer war. | |
Seit einigen Jahren wird praktisch auch alles veröffentlicht, was | |
aufgenommen wird. | |
Hebt das den Schrottanteil? | |
Es gibt jetzt insgesamt mehr Musik, also auch mehr Schrott. Die Relation | |
ist aber ziemlich gleich geblieben. | |
Wie viele Fußballplatten besitzen Sie? | |
Vielleicht 2.500, dazu tausende MP3-Dateien. In unserem Archiv haben wir | |
rund 3.500 Fußballtonträger. | |
Ihr Archiv ist die Internetplattform [1][fc45.de] für deutschsprachiges | |
Fußballliedgut, die Sie 2005 zusammen mit Michael Schäumer gegründet haben. | |
War das eine Schnapsidee – im wahrsten Sinne des Wortes? | |
Nein. Michael Schäumer und ich haben den gleichen musikalischen und | |
fußballerischen Background. Er wuchs in Wanne-Eickel auf und musste sich zu | |
seinem Herzverein noch einen Lieblingsverein suchen: den VfL Bochum. Wir | |
gehen seit Jahren zusammen zum Fußball ins Olympiastadion. Weil Schäumer | |
auch Fußballplatten sammelt, hatte ich ihn mal nach einer kompletten Liste | |
von dem Genre gefragt. Die kannte er nicht. Also haben wir sie selbst | |
aufgebaut. | |
Nicht schlecht! | |
Ich wollte einfach was Schönes in der Hand haben oder auf dem Bildschirm. | |
Ich bin von Natur aus ein Komplettist. Wenn ich etwas sammele, muss ich | |
alles haben. Entweder richtig oder gar nicht. Mit den Fußballplatten ist | |
das dann eskaliert, es ist fast eine Obsession. Ich suche überall im Netz | |
und sonst wo, ich bin ein professioneller Forscher. | |
Wie viel Geld hat Sie Ihre Sammelwut gekostet? | |
Ein nagelneuer Mittelklassewagen deutscher Herkunft wäre drin gewesen. | |
Waren Fußball- und Musikfantum schon früh bei Ihnen verknüpft? | |
Das ging los mit dem WM-Lied „World Cup Willi“ von Lonnie Donegan. Da war | |
ich sieben, und England hatte gerade die WM 1966 gewonnen. Das Lied blieb | |
in meinem Kopf. Platten sammle ich, seit ich zehn bin. Aber das mit den | |
Fußballplatten fing erst an, als ich in den Achtzigern nach Berlin kam. | |
Was war der Auslöser? | |
Ich hatte mir den Sampler „Viva Fußball“ für eine Mark gekauft. Darauf | |
waren Titel wie „44 Beine“ von Torwart Norbert Nigbur oder „Lass doch mal | |
Dampf ab“ von Gerd Fröbe. Ich dachte: „Oh, das ist gut“ – und wurde ri… | |
süchtig nach dem Zeug. Auf Flohmärkten habe ich dann bewusst nach deutschen | |
Fußballsingles gesucht. | |
Warum sind Sie denn nach Berlin gekommen? | |
Alle meine Kumpels aus der FC-Köln-Gegend flohen vor der Bundeswehr nach | |
Westberlin, und die habe ich da besucht. Eigentlich ging es nur ums | |
Partymachen. Eine Weile bin ich noch hin und her zwischen Berlin und | |
London, bis ich im Frühjahr 1984 einen „Ich bin schwanger“-Anruf aus Berlin | |
bekam. Da musste ich mich entscheiden. Das Ergebnis war: Frau, Kind, ich | |
und Berlin. | |
Sie sind dann in die Kreativszene eingestiegen? | |
Ich habe selbst zusammengestellte Tapes verkauft, zum Beispiel von | |
John-Peel-Sessions. Ich habe auch Liveaufnahmen in diversen Kleinklubs | |
gemacht, in England und hier, im „Loft“ oder im „Metropol“. | |
Ging das heimliche Mitschneiden problemlos? | |
Es gab damals eine Berliner Firma, die hochwertige Kopfhörermikrofone | |
herstellte. Weil die wie Kopfhörer aussahen, fielen die am Einlass nicht | |
auf. Ärger gab es dann aber mit einem Aufnahme von einem englischen | |
BBC-Konzert von Nena 1984. Die Tapes hatten wir ja nicht nur per Mailorder | |
in ganz Deutschland verkauft, sondern auch auf dem Flohmarkt auf der Straße | |
des 17. Juni. Als ich dort den Nena-Keyboarder Uwe Fahrenkrog mal fragte, | |
ob er mir auf mein Bootleg ein Autogramm gibt, hat er das gepetzt – und es | |
gab einen Prozess. | |
Am Ärgermachen schienen Sie Spaß zu haben. Ihr Fanzine Ich und mein | |
Staubsauger war so was wie das Zentralorgan des Stänkerns. | |
Das Fanzine hatte ich 1986 mit meiner damaligen Frau gegründet. Viele Leute | |
halfen uns, Tom Scheutzlich, der jetzt Mitglied in der Band Mutter ist, | |
Sabine Toepfer, die heute was Hohes bei der CDU ist [Staatssekretärin in | |
der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz, d. Red.], und Max | |
Goldt alias Onkel Max. Wir haben über Kultur, Sport, Politik geschrieben | |
und sogar die Leserbriefe selbst. Nur eben nicht so nett wie in den | |
Stadtmagazinen Zitty und Tip, sondern sehr kritisch. Uns interessierte | |
nicht, ob eine Plattenfirma uns Platten schickt oder ob wir Freikarten für | |
Konzerte kriegen. Wir haben das Fanzine bei uns zu Hause gedruckt und mit | |
Fahrrädern verteilt. Wir hatten auch viele Abonnenten in Westdeutschland | |
und haben die Hefte sogar in der DDR verschenkt. | |
Wie brachten Sie die denn rüber? | |
Wir schmuggelten die Magazine – in einem war sogar mal ein | |
Honecker-Bastelhampelmann – über befreundete US-Soldaten im Kofferraum nach | |
Ostberlin. | |
Warst Sie auch mal zu Fußballspielen in Ostberlin? | |
Ich war mal im Jahnstadion, aber das konntest du vergessen. Es gab zwar | |
gute Spieler im Osten. Aber das Spielniveau war doch meistens bescheiden. | |
Wo haben Sie in Berlin nach guten Fußballspielen gesucht? | |
Meistens im Olympiastadion, deshalb war ich bei Blau-Weiß und jetzt eben | |
Hertha. Für die habe ich eine Dauerkarte. Zu TeBe bin ich aber auch oft | |
gegangen. Wenn Union in der ersten Liga spielen würde, würde ich da auch | |
hingehen. | |
Ihr fc45-Archiv zeigt eine bemerkenswerte Vielfalt der Fußballmusik: | |
Vereinslieder, WM-Songs, Fußballer als Sänger und Besungene. Was lässt sich | |
aus diesem breiten Spektrum ableiten, außer dass aus Quantität kaum | |
Qualität erwächst? | |
Vor allem, dass Fußball soziopolitisch keine Grenzen kennt. Beim Fußball | |
kommen alle möglichen Leute aus allen sozialen Schichten zusammen, mit | |
sämtlichen politischen Ansichten von links bis rechts. Fußball hat keine | |
Grenzen, das ist fantastisch. Das zeigt sich auch in der Fußballmusik: Von | |
Polkabands aus den österreichischen Bergen bis hin zu Nazirock, von Rap bis | |
Rock ’n’ Roll, von Schlager bis Heavy Metal – es gibt kein musikalisches | |
Genre, das sich nicht mit Fußball beschäftigt hat. | |
Sie sammeln auch rechtsradikale Fußballmusik? | |
Es gibt viel derbe Nazimusik von sehr dubiosen Bands. Solche indizierte | |
Musik haben wir nicht auf unserer fc45-Seite. Aber Hooligansongs und rechte | |
Lieder sind natürlich Bestandteil der Fußballmusik. Man kann die braune | |
Kacke nicht ignorieren, wenn man ein ernsthaftes Archiv anlegt. Diese Seite | |
der Fußballkultur wird vom DFB vielleicht nicht gern gesehen, aber sie ist | |
ja da. | |
Gern gesehen wird hingegen Franz Beckenbauer, der die Deutschen ja schon | |
früh auch mit Schlagern beglückte. Alles was „der Kaiser“ anfasst, wird ja | |
angeblich zu Gold. | |
Ich finde Beckenbauer Singles „Du allein“ oder „1:0 für die Liebe“ | |
großartig. Es ist immer wieder wunderbar zu hören, wenn Fußballer singen. | |
Wie falsch die das machen! | |
Gab es früher einen größeren Mut zur Peinlichkeit? | |
Die Lieder von Gerd Müller sind wirklich so peinlich, dass es wieder gut | |
ist. „Dann macht es Bumm“ ist noch der beste Titel. Fußballer und Gesang | |
sind zwei Dinge, die absolut nicht zusammengehören. | |
Beziehen Sie das auf alle Fußballer oder nur auf deutsche? | |
Nein, das ist generell so. Es hat ja auch kaum ein Fußballer eine | |
Sängerkarriere geschafft. Julio Iglesias war in der Jugend mal Torwart bei | |
Real Madrid, bis er wegen eines Autounfalls aufhören musste und schließlich | |
Sänger wurde. | |
Bevor Fußballer selbst sangen, wurden sie ja zunächst besungen. | |
Stimmt. Das begann so in den 1920er-Jahren. Hermann Leopoldis Foxtrott | |
„Heute spielt der Uridil“ hieß 1922 eine Hymne auf den Wunderstürmer von | |
Rapid Wien. Das war damals ein Riesenhit. Ich mag diese alten schrägen | |
Sachen, aber auch moderneres Zeug wie Frank Schöbels „Ja, der Fußball ist | |
rund wie die Welt“, der DDR-Beitrag zur WM 1974. Das gehört für mich zu den | |
besten deutschen Fußballliedern. In der Musikzeitschrift Spex hatten wir | |
vor Jahren mal die Charts den besten Fußballplatten erstellt, da kam das | |
Lied nach ganz oben. | |
Zwischen 1974 und 1994 hat die deutschen Fußballnationalmannschaft vor | |
Weltmeisterschaften stets Lieder eingespielt … | |
Das letzte Mal haben sie 1994 zusammen mit Village People was gesungen – | |
und sind im Turnier dann früh rausgeflogen. Die Nummer war besonders | |
lächerlich. Andererseits finde ich es schade, dass es keine Blamage der | |
Nationalmannschaft alle vier Jahre auf musikalischer Ebene mehr gibt. Das | |
war immer ein Höhepunkt vor jeder WM. „Fußball ist unser Leben“ von 1974 | |
finde ich allerdings großartig. | |
Haben Sie einen Überblick, ob das Fußballliedgut in anderen Ländern auch so | |
umfangreich ist wie hierzulande? | |
In England werden meistens Vereine besungen. Da gibt es relativ wenige | |
Lieder über den Fußball an sich. Vielleicht haben die Briten die | |
Vorstellung, dass es zu blöde ist, über den Sport zu singen. Die Deutschen | |
und die Österreicher haben da keine Hemmungen. Ansonsten wird natürlich | |
überall über Fußball gesungen: in Italien, Niederlande, Frankreich, | |
Belgien, Polen. Aber wir konzentrieren uns auf die deutschsprachigen | |
Sachen. Am liebsten würden wir eine Art Fußball-Mediathek werden und die | |
Songs alle öffentlich zugänglich machen, was wegen des Urheberschutzes aber | |
aufwendig und teuer ist. Wir wollen uns jetzt in einen Verein umwandeln, um | |
vielleicht mehr voranzukommen. | |
Wäre der nächste Schritt, auch Fangesänge in die Sammlung einzubeziehen? | |
Es sind wenige Fangesänge auf Tonträgern veröffentlicht worden. Insofern | |
ist das nicht geplant. | |
Singen Sie eigentlich im Stadion mit? | |
Nein, nein, nein, das ist ekelhaft. Bisschen grölen, okay. Aber ich habe | |
eine sehr große Abneigung gegen Ultras und Megafone. Die sollte man in | |
allen Stadien verbieten. Und diese organisierte Mitsingscheiße sieht doch | |
aus wie russisches Eiskunstlaufen in den Siebzigerjahren, als die Zuschauer | |
alle so rhythmisch geklatscht haben, oder wie auf Spartakiaden mit lauter | |
bunten Bildern. Dieses organisierte Fanverhalten kriecht sich wieder in die | |
Bundesliga ein. Das ist widerlich. | |
Man redet inzwischen von Fußballkultur. Sie tun das offenbar nicht. | |
Das ist für mich keine Kultur, das ist eine Schandtat. | |
Viele Fußballlieder in Ihrem Archiv beziehen sich auf einen Verein, sie | |
sind oft sogar Teil der Tradition eines Klubs. Wissen das die Vereine | |
eigentlich zu schätzen? | |
Ich glaube, das interessiert die nicht. Die oberen Vereinsleute sind wohl | |
eher der Meinung, dass jetzt mal eine CD erscheinen sollte. Und dann | |
beginnt die Vetternwirtschaft. Man kennt jemanden, und der macht die neue | |
Platte. | |
Bei Hertha BSC wurde vor einiger Zeit diskutiert, die etwas angestaubte | |
Frank Zander-Hymne „Nur nach Hause“ durch eine moderne Nummer von der Band | |
Seeed zu ersetzen, zumal Pierre Baigorry – sprich Sänger Peter Fox – sogar | |
Fan von Hertha ist. | |
Seeed sollen auf jeden Fall eine Hertha-Hymne machen. Jeder soll dürfen, es | |
gibt keine Begrenzung. Es ist letztlich eine Frage der Qualität. Aber | |
leider haben sie innerhalb der Vereine meistens kein ordentliches | |
Fachwissen über Musik und keinen Bezug zur Kultur außerhalb von Fußball. Am | |
Ende kriegen sie dann halt oft die falschen Songs. Warum Hertha nie was mit | |
Seeed gemacht, ist mir ein völliges Rätsel, weil jeder sagen würde: „Hey | |
Leute, damit gewinnt ihr echt neue Hertha-Fans!“ Wenn eine qualitative | |
Topband ein Fußballlied macht, ist das nur von Vorteil. | |
3 Jun 2012 | |
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## AUTOREN | |
Gunnar Leue | |
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